>

Fanhistorie LXIX „Mich erfasst Wonnegraus“ - Erinnerungen an die Saison 91/92

#
Fanhistorie LXIX „Mich erfasst Wonnegraus“ - Erinnerungen an die Saison 91/92


Ein abgedunkelter Raum.

Durch die dichtgeklappten Lamellen der herabgelassenen Jalousie kämpfen sich Reste des abendlichen Sonnenlichts spärlich ihren Weg in das Zimmer. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Es riecht muffig nach dem alten Linoleum des Bodenbelags und es riecht auch noch ganz fein nach Waschmittel und nach Schweiß.

Das Pendel einer Wanduhr aus Omas Tagen rechts neben dem goldberahmten röhrenden Hirsch schlägt ihr beschwerlich-tiefes „Tick   -   Tack   -   Tick   -   Tack“. Übertönt wird dieser gleichmäßige Schlag des Uhrwerks durch ein dem Ohr wenig vertrautes, doch nicht minder ebenmäßiges Geräusch: „Chh-pfffft … chh-pffft…..chh-pfffft“. Dazu ein technisches „Piiieep“ in noch rascherer Folge.
Haben sich die Augen nach einigen Minuten endlich an das Büchsenlicht gewöhnt, so wird man der Herkunft der Geräusche gewahr: Dicht vor dem Fenster steht ein eisernes Krankenbett mit flachgestelltem Kopfteil. Darauf liegt ein Mann mit halbgeschlossenen Lidern.

Seit vielen Jahren dämmert er hier im Koma, am Leben gehalten von der Nährlösung, die aus einem Tropf in seine Vene rinnt, und dem Beatmungsgerät, das seine Lungen mit Luft füllt. Ein anderer Apparat kontrolliert die wesentlichen Vitalfunktionen und gibt außer über einen betagten Monitor, auf dem grünlich Zahlen und eine oszillierende Kurve flimmern, noch mit besagtem Piepen Kunde von Leben. „Chh-pfffft … chh-pffft…..chh-pfffft“, rasselt das Atemgerät seinen Gang.

Im Vordergrund hat sich die Familie des Siechen, die längst an den bemitleidenswerten Zustand ihres Lieben gewöhnt ist, um den Küchentisch versammelt und spielt Karten. Mutter erledigt klappernd den Abwasch während Opa die Tagesschau anschaltet.

„Achtzehn?“
„Ja“
„Zwanzig?“
„Ja“
„In Moskau hat heute eine Gruppe, die sich selbst „Staatliches Komitee für den Ausnahmezustand“ nennt, Präsident Gorbatschow für abgesetzt erklärt. Die aus alten Kadern der KPdSU bestehende“
„Zwo?“
„Weg“
„Null?“
„Ja“
„Vier?“
„Weg“
„Herz“
Ein Kreuz-Ass segelt nonchalant auf den Tisch, es folgen Kreuz-Neun und Kreuz-König.
Schweigend wird Stich auf Stich eingesammelt.

„Kerle, was hab isch en Dorscht – kammer net emal aaner en Ebbelwoi bringe?“

Fünf Köpfe fliegen herum und blicken mit aufgerissenen Augen und offenem Mund in Richtung Fenster des angrenzenden Raumes hinten, von wo der Satz kam. Ein Suppenteller zerschallert auf dem Boden in tausend Stücke.

„Ei, was is dann jetz mit dem Schoppe, isch hab en Brand wie en Stier!“

Noch in Schockstarre gefangen sieht die Familie mit an, wie sich der Kranke im Bett aufrichtet, die Kanülen aus seinem Körper zieht und nach einem ausgiebigem Räkeln die Beine auf den Boden setzt.

„Isch denk emal, nach em große Saure könnt isch dann aach noch en Waldläufsche verdraache.“

Vorhang


Der Patient, das ist die Eintracht der Achtziger.

Und die Familie, das sind natürlich wir, die Fans mit dem Adler im Herzen.

Wer es miterlebt hat, der wird nachfühlen können, welche Qual man damals erleiden musste. Lange klammerte man sich an den aus glorreichen Tagen herüberschimmernden Goldglanz großartiger Zeit, der allmählich blasser und blasser wurde. Denn die Eintracht bot beinahe eine ganze Dekade während ein Bild des Jammers, man kann es nicht anders bezeichnen.  

An die Achtziger, die mit UEFA- und DFB-Pokalsieg so verheißungsvoll begonnen hatten, denkt man als Eintrachtfan deshalb bis auf einige Ausnahmen nicht gerne zurück. Um hier nicht im Detail wieder all die schmerzlichen Erinnerungen wachzurufen – derer wird es in dieser Geschichte ohnehin noch genug aufzuwühlen geben - darf ich lediglich aus den Überschriften zitieren, die Frank Gotta in seinem wunderbaren Buch „Im Herzen von Europa“ zu diesen Jahren gewählt hat. „Kurz vor dem finanziellen Kollaps“, „Abstiegsängste“, „Tore sind Mangelware“, „Relegation“, „Tabellenkeller“, „Chaos“, muss man dort lesen.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin kein Erfolgs-Fan und habe viele Jahre später auch in der 2. Liga im Stadion gestanden. Aber es bereitet mir damals wie heute richtiggehend physische Qual, die Eintracht am Abgrund sehen zu müssen. Und dies war in den Achtzigern eben mehr als einmal der Fall.

Und dann kam fast wie aus heiterem oder besser gesagt dunklem Himmel das, was schier unglaublich schien: Die Auferstehung des Koma-Patienten. Zunächst machte die Eintracht zwei Spielzeiten damit von sich Rede, dass sie sich zum einen wieder fest in der Liga etablierte, und zum anderen auch noch zunehmend attraktive Spiele absolvierte. In der Saison 91/92 schließlich war ein Zenith erreicht: Von Beginn an dominierte die Eintracht das Geschehen im deutschen Fußball.

Welch ein Team hatte da zueinander gefunden: Uli Stein, Anthony Yeboah, Andreas Möller, Uwe Bein, Ralf Weber, Ralf Falkenmayer, Axel Kruse, Norbert Nachtweih, Manni Binz, Uwe Bindewald, um nur einige zu nennen. Ich bekomme heute noch Gänsehaut, wenn bei dieser Aufzählung vor meinem geistigen Auge diese Mannschaft wieder ersteht und die Bilder von den damaligen Spielen zu laufen beginnen. Einfach nur geil.

In der fußballinteressierten Öffentlichkeit und in den Medien rückte der Begriff von der launischen Diva Eintracht Frankfurt rasch in den Hintergrund und wurde durch ein anderes Schlagwort ersetzt, das in der Folgezeit zum Synonym für den Frankfurter Rasenzauber werden sollte: Fußball 2000! Ja, genau so sollte er damals aussehen, der Fußball der Zukunft – offensiv, Erfolgs-, das heißt Tor-orientiert, und technisch anspruchsvoll-brasilianisch; ein Fest für Ästheten. Noch heute scheint es beinahe mystisch, was sich damals mit der Eintracht abspielte.

Wie also habe ich die Saison 91/92 miterlebt?

Den Beginn der Spielzeit erlebte ich während einer Kinderfreizeit in dem schönen Feriendorf von Ober-Seemen im Vogelsberg, zu welcher ich als Betreuer mitgefahren war. Wobei „erleben“ sich für erträgliche zwei Wochen allein auf die Nachrichten im Radio beschränkte, denn Fernsehen ist dort oben zum Glück tabu.
Einer der von mir initiierten Programmpunkte für die Kids war selbstgemachtes „Radio“, das wir „DDR – Das Dorf-Radio“ getauft hatten. Das „Radio“ bestand schlicht darin, dass wir zwei riesige Lautsprecher in den Innenhof stellten und aus einem der angrenzenden Säle unser vorher erarbeitetes Programm auf das Gelände „sendeten“.  

Da unter den fast 100 Kindern natürlich eine große Zahl Fußballinteressierte waren, sah ich es als meine Pflicht an, neben dem vielen Blödsinn, den wir da über das Radio verzapften, zumindest eine wahre Nachricht aus der realen Welt hinter den sieben Bergen zu bringen: Die Fußballergebnisse. Wobei es korrekterweise im Singular „Fußballergbnis“ heißen muss, denn vor lauter Begeisterung vermeldete ich tatsächlich nur ein einziges Ergebnis dieses 2. Spieltages.

Wir schreiben den 10.August 1991, ein knalleheißer Sommertag aus dem Bilderbuch. Für unsere Sendung hatten sich die meisten Kinder, die nicht am Radiomachen beteiligt waren, als Zuhörer im Innenhof versammelt. Nachdem die letzte Sprecherin mit unserer üblichen Quizfrage die Sendung abgeschlossen hatte, schnappte ich mir das Mikro und stellte mich ans Fenster, damit ich die Reaktion auf meine letzte Meldung verfolgen konnte. „So, bevor wir unsere Sendung für heute wirklich beenden, habe ich noch eine Nachricht für die Fans von Eintracht Frankfurt.“ Draußen wurden nervös die Ohren gespitzt. „Das Ergebnis des heutigen zweiten Spieltages der Fußball-Bundesliga beim Spiel Eintracht Frankfurt gegen den FC Schalke 04 lautet   (Kunstpause)   FÜNF ZU NULL!!!“ Es folgte ohrenbetäubender Jubel draußen.

Auch wenn dies eigentlich nicht hierhin gehört, so muss ich noch eine kleine Anekdote erzählen, die auch mit Fußball, dem Jahr 1992 und dem Feriendorf zu tun hat. Wie gesagt wird dort oben kein Fernsehen geschaut, was wirklich ein Segen ist. In all den Jahren, die ich als Betreuer dorthin mitgefahren bin, haben wir auch nur ein einziges Mal eine Ausnahme gemacht, und zwar am 26. Juni 1992. Zu diesem Datum fand das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft Deutschland-Dänemark in Göteborg statt und wurde natürlich live übertragen. Solch ein sportliches Großereignis darf man dem fußballinteressierten Nachwuchs nicht vorenthalten, zumal wir es natürlich selber sehen wollten. Also wurde für dieses eine Mal der Wandschrank mit der Glotze geöffnet.

Schon vor dem Spiel hatte sich eine große Zahl Kinder – viele mit Nationaltrikots und einige sogar mit Fahnen - im Saal versammelt, während wir noch einmal kurz in der angrenzenden BAR verschwanden. „BAR“ steht übrigens für „Betreuer-Aufenthalts-Raum – nicht, dass ihr denkt…

In der BAR nahm das folgende Unheil seinen Anfang, denn dort standen noch die Töpfchen mit den Schminkfarben vom Vormittags-Programmpunkt auf dem Tisch. Ein höllischer Plan bemächtigte sich unser. Die Zeit bis zum Anpfiff nutzten wir nämlich dazu, unsere Gesichter mit perfekten dänischen Flaggen zu bemalen. Irgendwo lagen auch noch rote und weiße Tücher in der Ecke rum, außerdem Krepp-Papier in den gleichen Farben. Als die Spieler gerade den Rasen betraten, kamen wir in einem Outfit, bei dem jedem Dänen vor Begeisterung die Literdose Faxe aus der Hand gefallen wäre, mit irrem Getöse durch die Tür, denn wir hatten auch noch das Megaphon und diverse Rasseln entdeckt.
„WE ARE RED, WE ARE WHITE, WE ARE DANISH DYNAMITE“, brüllten wir aus Leibeskräften.
Die Kids blickten uns mit vor Entsetzen geweiteten Augen an: „Seid ihr etwa -  für Dänemark?“ hieß es, und wir antworteten „WE ARE RED, WE ARE WHITE, WE ARE DANISH DYNAMITE“.
Das Spiel geht los, in der 19. Minute fällt das 1:0 für die Dänen. „JAAAAAA, TOOOOOR!!!!!“ „Das gibt’s doch nicht, die sind ja wirklich für Dänemark.“ Halbzeit, wir im BAR eine rauchen, dann wieder grölend und trötend in den Saal. Wiederanpfiff, 79. Minute, 2:0 für Dänemark „JAAAAAA, TOOOOOOR!!!!“ „Jetz haltet endlichs Maul“ – Kinder können so verletzend respektlos sein.
Schlusspfiff. „JAAAAAA, GEWONNEN!!!“ Dann rannten wir um unser Leben.

Ein etwas derber wie lustiger Spruch meines leider viel zu früh verstorbenen Freundes und Kollegen Peter darf in diesem Kontext hier Platz finden. Wir erinnern uns: Im selben Jahr, in dem Dänemark per Volksabstimmung die EU-Verträge von Maastricht ablehnte, wird das Land nur drei Wochen später Fußball-Europameister, obwohl die Mannschaft schon in der Quali rausgeflogen war und nur teilnehmen durfte, weil Jugoslawien ausgeschlossen wurde. Peter kommentierte dies auf die ihm eigene Art mit: „Jetzt stehen die Dänen aufm Deich und [bad]*******[/bad] in die Ostsee!“

Übrigens: Wenn die Eintracht gespielt hätte, wäre es mir nicht im Traume eingefallen, mich in den Farben des Gegners zu kostümieren, auch nicht zum Spaß. Es gibt Dinge, mit denen treibt man keinen Chabernack.

Doch kommen wir wieder zur Bundesliga zurück und der Saison, die vielleicht eine der schönsten und die schrecklichste zugleich für uns Adler gewesen sein mag: Ein faustisches Drama voll Wonnegraus, das ob seines tragischen Finales auf immer mit dem Namen einer Hansestadt an der Ostsee verbunden sein wird.

Ergebnisse wie das 5:0 gegen Schalke, gepaart mit überragenden fußballerischen Vorstellungen, bei denen Freunden echter Ballkunst das Wasser im Munde zusammenlief, zelebrierte die Eintracht ein um das andere Mal. Meine Güte, hat das Spaß gemacht, damals Fan zu sein. Ich erinnere mich an einen Samstag im November, als ich dem Mann meiner Cousine beim Verschweißen von Dachpappe mit einem Gasbrenner zur Hand ging, und mein Vater zu uns kam, um uns von der Baustelle abzuholen. Mit Grabesmiene sagte er: „Haste gehört? Der MSV Duisburg hat heute bei seinem Heimspiel drei Tore gegen die Eintracht geschossen!“ „Scheisse“, entfuhr es mir spontan. Darauf mein Vater mit verschmitztem Gesicht: „Macht aber nix, die Eintracht hat sechs Tore geschossen!“  

Was eine abgefahrene Saison – die Eintracht spielt im Konzert der Großen meist die erste Geige, gewinnt sogar auswärts beim direkten Konkurrenten VfB Stuttgart 2:1, gewinnt in Leverkusen mit 3:1 und schickt auch die Unaussprechlichen nach einem Remis im Hinspiel mit 3:2 an die Isar zurück. Auf der andern Seite gibt die liebe Eintracht wenigstens einmal zu oft die Diva und blamiert sich bei Luschis, wie zum Beispiel bei Dynamo Dresden (1:2).  

Ich will hier nicht beim Saisonverlauf zu sehr ins Detail gehen, das haben andere bereits sehr viel besser getan, als es mir möglich wäre. Auf jeden Fall hat es einfach nur Spaß gemacht, diese meist so fulminant aufspielende Eintracht auf einem verdienten Platz an der Sonne zu sehen. Und schier unglaublich, dass unser Verein nach 33 Jahren mehr oder weniger unerwartet plötzlich die Hand an der Meisterschale hatte.

Doch dann zogen düstere Wolken auf.

Wir schreiben den 9. Mai 1992, es ist der vorletzte Spieltag einer Saison, in der die Eintracht Fußball-Deutschland begeistert. Eintracht Frankfurt liegt auf dem ersten Tabellenplatz und ist punktgleich mit dem VfB Stuttgart. Dies bedeutet: Wenn an diesem Spieltag Stuttgart verliert und die Eintracht gewinnt, so wären wir durch das um sieben Treffer bessere Torverhältnis schon vor Saisonende mit ziemlicher Sicherheit Deutscher Meister gewesen. „Heimfinale um den Titel“, schreit es von der Titelseite des Stadionmagazins an diesem trüben Maitag. Gegner im Waldstadion ist Werder Bremen. Zuschauerzahl: 46.000! Im Spiel gegen die Bayern waren es über 60.000 im Waldstadion.

Man muss sich das vorstellen: Die Meisterfeier im eigenen Stadion hätte also bei Eintreten des erwähnten Szenarios „Eintracht-Sieg und VfB-Niederlage“ vor halbleeren Rängen stattgefunden.

Ich weiß noch, wie ich damals auf der Osttribüne in der Nähe des damaligen Gästeblocks stand und mindestens so entsetzt über die schwache Kulisse wie über das noch glücklich zu nennende Ergebnis war. „Deutscher Meister wird nur der VfB, nur der VfB, nur der VfB“, höhnten die Werder-Fans zur Melodie von „Yellow Submarine“ beim Stande von 1:2 für Bremen. Gegen die noch im Alkoholdunst kickenden Bremer Spieler, die drei Tage zuvor den Europapokal der Pokalsieger gegen den AS Monaco geholt hatten, reichte es schließlich zu einem 2:2 Unentschieden. Puh. Ein weiteres Aufatmen gab es, als auf der Anzeigetafel das Ergebnis aus Stuttgart aufflimmerte: Auch der VfB hatte gegen Wattenscheid gepatzt und nur ein 1:1 erzielt.

Noch etwas benommen ob dieser Beinahe-Niederlage, doch mit dem Bewusstsein, es weiterhin selber in der Hand zu haben, am letzten Spieltag die Meisterschaft klarzumachen, trotteten wir aus dem Stadion.

Der vielleicht zehnjährige Sohn eines Arbeitskollegen meinte nach dem Remis auf dem Weg zum Bahnhof  Sportfeld zu mir: "Wenn sie es nicht schaffen, in Rostock zu gewinnen, dann haben sie es auch nicht verdient, Meister zu werden!" Ich war ziemlich geschockt, dass man als kleiner SGE-Knirps so abgeklärt sein kann, denn ich habe damals alle höheren Mächte angefleht, dass wir das schaffen - egal wie. Heute tendiere ich eher dazu, dem Bub Recht zu geben, trotz der späteren Geschehnisse.

Oder, um uns an die eigene Nase zu fassen und es ganz drastisch zu formulieren: Hat es eine Stadt, in der am vorletzten Spieltag die dortige Mannschaft im eigenen Stadion deutscher Meister werden kann, und das Stadion nur zu zwei Dritteln besetzt ist - hat es diese Stadt, haben es diese Anhänger verdient, die Schale zu bekommen? Man stelle dich die gleiche Situation heute vor: Die Eintracht könnte wahrscheinlich 150.000 Karten verkaufen.

Es nahte der letzte Spieltag, der 16. Mai 1992. Für meine Person ist der 16. Mai ohnehin schon ein Datum von beinahe existenzieller Bedeutung, handelt es sich dabei doch um meinen Geburtstag. So stand ich damals vor der Wahl zwischen zwei Möglichkeiten, diesen besonderen Tag zu begehen. Die eine Möglichkeit bestand darin, die Übertragung auf der am Paulsplatz aufgestellten Großleinwand zu verfolgen und Geburtstag wie Meisterschaft mit vielen tausend Eintracht-Fans zu feiern. Die andere Möglichkeit war eine Party mit meinen Freunden – Fußballinteressierte und –nichtinteressierte zusammen. Den Ausschlag für die letztere Option gab schließlich der Umstand, dass meine Eltern in Urlaub waren und ich somit sturmfreie Bude in unserem Haus hatte.

Der 16. Mai 1992 ist ein wundervoller Frühlingstag mit Temperaturen weit jenseits der 20 Grad und strahlendem Sonnenschein. Am frühen Nachmittag begann ich mit den Vorbereitungen. Um ja keine Sekunde der Radioübertragung zu verpassen, hatte ich gleich in drei Stockwerken jeweils einen Empfänger angeschaltet. Die Bundesliga-Konferenz begann und wie immer, wenn ich live ein Spiel meiner Eintracht verfolge, sei es im Stadion, am Fernseher oder eben am Radio, wie immer ist in solchen Situationen ein HB-Männchen phlegmatisch zu nennen gegen meine Gemütsverfassung ab dem Anpfiff.
Ich erspare uns und mir die Schilderung der Spielszenen. Um der Ehrlichkeit genüge zu tun – ich könnte dies auch gar nicht mehr, denn in meiner Erinnerung hat sich von diesem Spiel nur noch das permanente Gefühl von „Ich-werde-jetzt-gleich-wahnsinnig“ in die Gegenwart hinübergerettet. Bei meinen Party-Vorbereitungen bin ich wie ein Besessener von Stockwerk zu Stockwerk gehetzt, von Radio zu Radio – nichts wie fort vom Geschehen, schnell wieder hin zum Geschehen. Ein Rastloser, ein Getriebener, eine Zigarette an der nächsten anzündend.

Irgendwann – die zweite Halbzeit lief bereits, klingelte es an der Tür. Mein Cousin. Es spielt zwar nicht die geringste Rolle, dass mein Cousin stockschwul ist, ich erwähne dies nur zur Illustration seines folgenden Wesenszuges: Von Fußball aber auch nicht einmal einen Anflug von Ahnung. „Was ist denn mit dir los?“, fragte er völlig verständnislos, als er meines Zustandes nahe dem Wahn gewahr wurde. „Was mit mir los ist? Da spielt die Eintracht um die deutsche Meisterschaft, es steht Unentschieden und wir brauchen noch ein Tor. DAS IST MIT MIR LOS, DU IDIOT“, werde ich laut. „Ach, tho, Futhball“, meint Stefan mit einem Ton, wie er nicht von abfälligerem Desinteresse hätte sein können. Vor soviel Ignoranz flüchte ich umgehend in das nächste Stockwerk zum nächsten Radio.

Die Zeit verrinnt unbarmherzigen gegen die Eintracht. Nun laufen die letzten Minuten. Längst bin ich als ein Häuflein zitterndes Elend im Wohnzimmer vor dem Radio festgewachsen. „Bitte, bitte, bitte, BITTE“, flehe ich innerlich zu wem auch immer. „BIITTTTEEEEE“.

Schlusspfiff in Rostock.

Aus.

Paralysiert sinke ich zu Boden und verharre regungslos im Schockzustand, eines klaren Gedankens unfähig.

Aus.

Irgendwie hat mein Cousin nun doch mitbekommen, welche Bedeutung die eben verfolgten Geschehnisse da gerade für mich wohl haben müssen und so legt er mir nach einigen Augenblicken Pietät die Hand auf die Schulter. „Du musst die Anne vom Bahnhof abholen“, katapultiert er mich in die Wirklichkeit zurück.

Mein erster Weg – keine Ahnung, wie ich spontan auf die Idee kam – führt zum Nähkästchen meiner Mutter. Dort finde ich ein Stück schwarzen Stoffsaum, den ich mir als Trauerflor um den rechten Oberarm über den Trikotärmel binde. Dann fahre ich zum Bahnhof. Das Verdrängen beginnt in dem Augenblick, in dem Moni aus dem Zug steigt. Und mir sollten bald viele kleine vergorene Äpfelchen und viele kleine destillierte Gerstenkörner beim Verdrängen behilflich sein im weiteren Verlauf des Abends.

Am nächsten Tag weckt mich irgendwann meine Cousine (nein, nicht Stefan) und mit dem Einschalten des Fernsehers beginnt nun der richtig schlimme Teil der Trauerarbeit. Auf der Mattscheibe laufen die unerträglichen Bilder vom Vortag: Der Paulsplatz mit den eigenen Fans, die sich weinend in den Armen halten; der Jubel in Stuttgart; Ralf Weber wird im Strafraum gefoult; das 2:1 für Rostock; Christoph Daums Grinsegesicht beim Interview; Ralf Weber wird in Zeitlupe im Strafraum gefoult; Ralf Weber zertrümmert eine TV-Kamera; Ralf Weber wird von den Teamkollegen zurückgehalten, den Schiedsrichter zu ermorden; Ralf Weber wird noch einmal in Zeitlupe im Strafraum gefoult; der feiernde VfB mit der Schale – ganz bittere Milch das alles, ganz bittere Milch.

Und wenn ihr es wissen wollt: Ja, ich hatte Tränen in den Augen. Und wäre meine Cousine Monika nicht dabei gewesen, ich hätte wohl geheult wie ein Kind.

Auf jeden Fall bin ich an meinem 27. Geburtstag deutlich älter geworden als nur ein Jahr.

Nachtrag.

Dass das Rostock-Trauma auch bei unmittelbar Beteiligten bis heute als solches nachwirkt, das konnte ich durch einen Zufall erfahren.

Am ersten Spieltag der jetzt ablaufenden Saison, also am 11.August 2007 gegen Berlin, war ich Gast von Mitsubishi in deren Loge im Waldstadion. Als ich dort schon einige Zeit vor dem Spiel hereinkam, saßen vor dem Fenster ein Mann mit dem Rücken zu mir, sowie dessen Frau und Kind an einem der Tische. Nachdem ich die Presse-Leute von Mitsubishi begrüßt hatte, habe ich mich an den Tisch mit der Familie dazu gesetzt und mich kurz vorgestellt, wobei ich - natürlich - die Dame angeschaut habe: "Guten Tag, mein Name ist Frank Jung". Da sagt der Mann neben mir "Guten Tag, mein Name ist Uwe Bein." Mein Kopf schießt herum: ER war es!  

Ich nehme an, Uwe dürfte von derartigen Fragen ähnlich genervt sein wie Holz von Erkundigungen zum Elfmeter im Endspiel der WM 1974, aber ich konnte nicht anders. Und so habe ich ihn tatsächlich gefragt, wie er die Sache mit der im Ostseestadion verpassten Meisterschaft aus heutiger Sicht empfindet.
Uwe Bein: „Wir haben die Meisterschaft nicht am letzten Spieltag verloren sondern in den Spielen davor: Daheim nur unentschieden gegen Wattenscheid, kein Elfer nach Foul gegen Bremen an mir und so weiter.“
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass da jemand bis heute die Geschehnisse in Rostock verdrängt.

Wie sieht es mit mir selber aus?

Sicher, auch ich werde nicht gerne an diesen Tag erinnert, der in www.eintracht-archiv.de nur geschwärzt erscheint. Noch immer segelt die Hansa-Kogge bei mir auf einer Welle aus Tränen. Aber ich habe längst meinen Frieden gemacht mit Alfons Berg aus Konz an der Mosel, der seine Fehlentscheidung bitter und aufrichtig bereut hat.  

Denn seien wir einmal ehrlich: Es hätte doch schlimmer kommen können. Wir hätten in Rostock ohne diese klare Fehlentscheidung eine Niederlage kassieren können. Ohne diesen nicht gegebenen Elfmeter fehlte uns bis heute das eherne Bewusstsein, um die Meisterschaft betrogen worden zu sein. Und ohne diesen Mythos wäre das Rostock-Trauma noch unerträglicher. So aber bleibt uns der ewige Konjunktiv zum Troste.

Ich möchte sogar noch einen Schritt weiter gehen. Sind mir nicht auch im Kino honigsüße Happy Endings ein Gräuel? Passt nicht dieser erschütternde Ausgang am Ende viel besser zu einer großen Dramaturgie, zu einer Tragödie von Bedeutung und damit auch - zur Eintracht?

Eine Metallschale in den Himmel recken, das kann jeder.
Im Augenblick der bittersten Niederlage zum Schiedsrichter zu gehen, der einem eben den größten sportlichen Erfolg verpfiffen hat, und ihm den Trost zu spenden, den man doch selber so nötig hätte, das kann nicht jeder.
Dem verhassten teaminternen Widersacher nicht die Schuld für das Versagen in die Schuhe zu schieben, sondern die schwarze Stunde zur Versöhnung zu nutzen und gemeinsam mit ihm den für die Siegesfeier vorgesehenen Sekt aus dem Kofferraum zu holen - das ist wahre Größe. Größe, die sich nur in der Niederlage zeigt, nicht im Sieg.

Ich schließe mit einem Zitat, das wohl von mir sein muss, da ich es nirgendwo gefunden habe.

Siegreiche Helden werden verehrt
Aber
Tragische Helden werden geliebt


Da ich zu übertriebenem Pathos neige, zwinge ich mich nun besser rasch zu folgendem letzten Satz, der mir umso leichter fällt, da ich ihn schon weiter oben zu Papier gebracht habe:

Für mich war die Saison 91/92 die schönste und schrecklichste zugleich, die ich als Fan von Eintracht Frankfurt erleben durfte.




Um aller – berechtigter - Kritik an meinen obigen Schilderungen die Schärfe zu nehmen, möchte ich auf das heutige Datum verweisen: Es ist der 16. Mai, mein Geburtstag. Der Tag, an dem vor 16 Jahren meine Eintracht nicht Deutscher Meister geworden ist.

Ich darf das heute.
#
Herzlichen Glückwunsch !

Danke und Respekt für eine ergreifende und dennoch unterhaltsame Geschichte.

Es sind in der Tat Ereignisse rund um den 16.5.92, die wohl keinen Eintracht-Fan jemals ganz loslassen werden.
#
Ui, welch eine Einleitung, die den wahren Schocker erst noch fast beiläufig leicht am Ende bringt. Und du hast doch tatsächlich diese böse Wort gebraucht, gleich mehrmals.

Aber, und das ist die wahre Leistung, ist dieses Drama so wunderschön geschrieben, das die Tragödie in den Hintergrund gerät und sich fast leicht liest. Keine leichte Kost, aber schön verdaulich, wonnegrausig!

Vielen Dank dafür und genau:
Grabi65 schrieb:

Eine Metallschale in den Himmel recken, das kann jeder.

#
Zunächst einmal vielen Dank. Das hast du toll aufgeschrieben. Ich habe Gänsehaut und Tränen in den Augen, obwohl ich damals gerade 6 Jahre alt war und mich Fussball/Eintracht gar nicht interessiert hat zu diesem Zeitpunkt.

Außerdem wünsche ich dir natürlich herzlichst alles Gute zu deinem Geburtstag. Feier schön und lass dich reichlich beschenken...
#
Jo Frank, Du darfst das tatsächlich.

Nicht nur, weil Du heute Geburtstag hast, sondern weil Du über eine wahnsinns Einleitung eine eigentlich zu oft durchgekaute, aber niemals verblassend Story mit viel gutem Beiwerk zu einem Lesegenuss verwandelt hast.

Ich will jetzt gar nicht streiten, was mir lieber wäre, verehrt oder geliebt, das Zitat stammt jedenfalls von Dir und der Absatz mit Schale, Niederlage, Grösse etc., der sollte zum Pflichtlesestoff für all diejenigen werden, die lesen können.

Liest die DFL Deinen Beitrag, dann haben wir die Fairplay Wertung spätestens nach diesem Absatz im Säckel

thx, Gruss und bis Morgen
Arndt
#
Eine sehr starke Abhandlung Frank,

die Einleitung ist genial und die Überleitung erst recht. Federleicht geschrieben und doch ergreifend und tiefgründig.

Vielen Dank dafür

Gruß
Uli
#
Ich gebe zu Frank, es hat mich etwas Überwindung gekostet mit dem Lesen deiner Fanhistorie anzufangen.
Du Rostock-Narbe ist bei mir bis heute nicht verheilt.
Allerdings hat mich der Text ganz schnell gefesselt und nicht mehr losgelassen.
Aber wie Du schon richtig festgestellt hast, das Spiel gegen Bremen hat eine wichtige Rolle gespielt.
Tränen in den Augen hatten wir an diesem 16.05.92 wohl alle, aber die Größe die Du in deimem Schlußabsatz zeigst hat wahrlich nicht jeder.

und das Zitat:
Siegreiche Helden werden verehrt
Aber
Tragische Helden werden geliebt

wird man künftig in den entsprechenden Sammlungen finden.
#
ach tho - futhball




samstag, 16.05.1959

werder bremen - eintracht frankfurt 2:7

das ist doch auch was!

nochmal herzlichen glückwunsch zum geburtstag
#
Arghhhh, wahrlich bittere Milch.

Trotzdem wunderbar.

Danke.



LG Uli
#
Alle schwärmen von deiner Einleitung, aber mich hat es dabei  gefröstelt . Ich mag nicht, dass meine Eintracht mit unschönen Dingen des Lebens verglichen wird. Aber das ist  
mein ganz persönliches Problem und macht deine Fanhistorie nicht schlecht. Denn die ist einfach genial und schön, bis auf den Anfang.
Übrigens, dieser 16.05.1992 war meine erster näherer Kontakt mit der SGE, ich stand damals am Paulsplatz und hatte Wut und Trauer im Bauch und hätte mir lieber "Bollywood" gewünscht.  ,-)
#
Grabi65,

leider lese ich deinen Beitrag erst heute. Meinen aufrichtigen Glückwunsch dazu. Inbesondere Anfang und Ende dieser Geschichte gehören ganz sicher zum beeindruckendsten, was ich hier lesen durfte.

Mehr möchte ich nicht sagen.
#
Schön, dass ich mir die Geschichte aufgehoben habe.
Unschön, das ich Dir dadurch nicht rechtzeitig zum Geburtstag gratuliert habe.

Nur soviel von mir: ich habe immer noch das Gefühl, dass "91/92" alles anders war.
Wir haben Spiele gewonnen, die wir davor niemals gewonnen hätten...
Und ja: wer stand noch mit mir auf dem Paulsplatz?
Isi + ?
#
Sehr schön geschrieben, auch wenn's traurige Ereignisse waren  

OB wir jemals wieder so nahe an die Meisterschale kommen?
#
sgevolker schrieb:
Sehr schön geschrieben, auch wenn's traurige Ereignisse waren  

OB wir jemals wieder so nahe an die Meisterschale kommen?


Und immer wieder kommen mir die Tränen, wenn ich an diese Wahnsinns-Saison denke. Was haben wir für einen geilen Fußball gespielt, was haben wir für Spiele gewonnen! Und in der gesamten Spielzeit nicht einen einzigen Elfmeter bekommen!!!

Wären nur einige von den berechtigten auch gepfiffen worden, die Eintracht wäre bereits am 32. Spieltag Deutscher Meister gewesen.
#
Vielen Dank für euer Lob, das mich sehr gefreut hat, und dafür, dass ihr euch diese schwer erträgliche Geschichte angetan habt.
#
Ich weiß nicht wieso, aber ich habe Deine Geschichte erst jetzt gelesen. Wahrscheinlich konnte ich mir während der laufenden Saison die Erinnerung an 91/92 nicht geben. Deshalb erst jetzt : nachträglich alles Gute zum Geburtstag und noch viel mehr Glückwünsche zu Deinem wunderschönen Text. Also ich hätte diese Größe nicht, Hut ab.

Da kommt schon einiges wieder hoch, schöne Spiele, null Elfmeter, tolle Tore, viele Erinnerungen, ... , ... . Und vor allem die Tränen.

Ach ja, im "BAR" in Ober-Seemen war ich auch des öfteren... .


Teilen