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SGExtra: Neulich, im Supermarkt

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Neulich, im Supermarkt

»Hier Henni ..!« Der Typ im Supermarkt kam so urplötzlich und unvermittelt auf mich zu, dass ich in diesem Moment begriff, wie schnell und hilflos man in bestimmten Situationen überrumpelt werden kann, auch wenn man sich im Geiste schon hundertmal auf so was vorbereitet hat. Aber in der Theorie hat man auch nicht zwei volle Einkaufstüten in beiden Händen.

Das Gesicht meines Angreifers war regelrecht wutverzerrt, und unter der Haut im Backen- und Nasenbereich pulsierten rote Äderchen wie aufgeregte Glühwürmchen, die versuchten, sich durch die Oberfläche nach oben zu arbeiten. Ich war sicher, dass er mich am Kragen packen oder mir erst mal eine Kopfnuss geben würde, auch wenn ich nicht den leisesten Schimmer hatte: Warum? Er beließ es aber dabei, mich aus nächster Nähe anzubellen und mich so nebenbei wissen zu lassen, dass er offensichtlich vor kurzem ein Fischbrötchen gegessen hatte und zudem starker Raucher ist. »Der Funkel hat de ***** offe, der macht alles kaputt. Der muss sofort fort, irgendein annerer muss her, sonst habbe mer bald wieder Derbytime!«

Alles klar, darum ging es also! Wir begannen – ohne Abtastphase – eine heftige Diskussion, in die sich sofort ein cordhosiger Rentner mischte, der die sicherlich nicht uninteressante These aufstellte, dass »da wie immer de schwarze Abt, dieser Gerster sei dreckische Finger« mit im Spiel hätte, und dessen Spieler wie fremdgesteuerte Marionetten je nach Order gut oder schlecht kicken würden! »Guck Dir doch den Albert Streit an, der macht des doch absichtlich! So lang der Abt hier rummecht, wird des nix mehr im Rhein-Main-Gebiet!« »Ich glaube eher, es liegt daran, dass de Meier kein richtische Spielmacher is – dadefür isser einfach zu lang.« Die Frau von der Brottheke hatte sich extra auf einen Stuhl gestellt, um uns diese Theorie besonders eindrucksvoll mitzuteilen. »Quatsch, des liegt daran, dass alle gedacht habe, de Brasilianer und de Judas würdens schon richte, wenn se wieder fit sind – habbe se aber net!« Der Typ in der Motorradkluft, der gerade an der Obstwaage ein Preisetikett auf seine frisch eingepackten Boskopäpfel klebte, war sich seiner Sache offenbar sicher. »De Jones kann da gar nix für, der war doch dauernd verletzt«, entgegnete einer, was unseren Rentner erneut auf den Plan rief. »Genau, weil de Gerster ihm des befohle hat!« »Der is doch gar net beim Gerster.« »Egal, er hat’s ihm trotzdem befohle!«

Mittlerweile hatten sich sämtliche Kunden – sowie das komplette Personal – rund um den Kassenbereich versammelt. Jeder hatte etwas zu sagen, und selbst wenn nicht, tat er es trotzdem, denn dafür war das Thema einfach zu wichtig. Eine etwas kräftige Dame stellte mit schriller Stimme die These auf, dass es wahrscheinlich eine Frage der richtigen Ernährung sei. »Die Buben müsse einfach mal en halbe Kranz Fleischwurst mit grüner Soße vorm Spiel verdrücke, dann gewinne die auch!« »Blödsinn, dass die so scheiße kicke liegt daran, dass das Trinkwasser im Stadion aus Offebach kimmt!« Allgemeines Gelächter.
Der Filialleiter des Supermarktes hatte derweil für seinen Beitrag extra das Fließband von Kasse 4 bestiegen. »Ich behaupte, dieser Bruchhagen ist keine geeignete Führungskraft, und ...« Sofort gab ich der Kassiererin stumm zu verstehen, das Band zu starten, und nur wenige Sekunden später war der Weißkittel samt der Unwahrheit von der Bildfläche verschwunden!

Ein Handwerker im Blaumann hatte in der Zwischenzeit das Regal mit den Gemüseeintöpfen bestiegen, von wo aus er allen mitteilte, was der Grund für die Eintracht-Misere sei: »Des liegt daran, dass es obbe im Stadion immer noch zieht. Da muss e Verkleidung dezwische – ich würds mache!« Ein eher steifer Typ im mittelteuren Anzug mischte sich ein: »Wie schon mein FDP-Parteikollege Hahn zum Thema Funkel richtig angemerkt hat ...« Weiter kam er nicht, denn ein Hagel aus Obst, Konservendosen und vollen Milchtüten jagte ihn in die Drehtür, in der er passenderweise genau in der Mitte stecken blieb.

Mitten im immer hektischer werdenden Diskussionschaos hob plötzlich ein kleines Omachen zittrig die Hand, um sich schüchtern zu Wort zu melden, und nach und nach verstummte die aufgewühlte Menge tatsächlich. Erwartungsvolle Spannung machte sich breit. »Kann mir mal jemand sagen, wo ich den Vanillepudding finde?« Für einen Moment herrschte allgemeine Ratlosigkeit, bis ich verlegen das kollektive Schweigen brach. »Kommen Sie, ich helfe Ihnen suchen.«

Schnell, und so, als wäre nichts gewesen, löste sich die spontane Versammlung auf. Denn eines war uns allen in diesem Moment klar geworden: Keiner von uns wusste wirklich, woran es lag, keiner wusste, warum diese eigentlich bundesligareife Mannschaft so tief da unten drinsteckt, warum sie ausgerechnet in einem solch geilen Stadion mit so lautstarken Fans regelmäßig verliert, warum sie einem guten Spiel sofort mindestens ein schlechtes folgen lässt.
Wir wussten ja nicht mal, wo hier im Supermarkt der Vanillepudding steht. Wie sollten wir da das große Frankfurter Fußball-Rätsel lösen?! Ratlos und durcheinander begleitete ich die Puddingsucherin durch die Regalgänge, bis wir dank meiner etwas besseren Sehkraft das Objekt ihrer Begierde gefunden hatten.

»Danke für die Hilfe, junger Mann, das war nett!« Dann beugte sie sich geheimnisvoll nach vorne, um mir was ins Ohr zu flüstern: »Am Samstag schlagen die Buben die Aachener, dann hole se en Pünktschen in Bremen, und zum Schluss roppe se die Berliner! Aber fragen Sie mich nicht warum, des hat bei dem Verein noch nie was gebracht!« Da hätten wir eigentlich auch selber draufkommen können.

In diesem Sinne! Hendrik Nachtsheim


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