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Auf dem Weg nach Zypern - Groundhopping- und Reisebericht aus dem Libanon (XXXL)

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Gude,

ich habe mal wieder in die Tasten gehauen und einen kleinen Erlebnisbericht über meine Anreise nach Zypern verfasst. Vielleicht interessiert es ja jemanden.

Der Text ist mal wieder viel zu lange geworden, daher hier erstmal Teil 1. Bei Interesse (und wenn er mal fertig ist), folgt auch noch der zweite Teil, dann auch mit Erstligafußball

Freitag, 31.08.2018 – Judgement Day Pt. II
Als uns als letzter Loskugelinhalt Apollon Limassol zugeordnet wird, bin ich zunächst nicht sonderlich euphorisch. Schon wieder Zypern – da hätte es durchaus bessere Alternativen gegeben. Bis zur finalen Terminierung am späten Nachmittag trinke ich noch genauso viele Ebbelwoi wie ich Blicke auf die Weltkarte werfe. Der Libanon ist ja schon nah,  die Flüge sind bezahlbar und laut Soccerway sind die Spiele auch schon terminiert. Da im Endeffekt die Eulen mal wieder nicht sind, was sie scheinen, bewahrheitet sich nur der erste der drei genannten Punkte. Im Augenblick der Buchung, wohlgemerkt in der Rooftop Bar eines Frankfurter Einkaufszentrums auf dem Smartphone Displaybei fast nicht vorhandenem Wlan und leicht einen sitzen habend (gibt es beschissenere Voraussetzungen?), ist mir das aber erstmal egal. Aegaen Airlines sollte Kate und mich via Athen nach Beirut und eine Woche später wieder von Larnaca nach Frankfurt bringen. Knapp 200,-€ wollen sie für ihre Dienste haben, die auch umgehend von meiner zu diesem Zeitpunkt noch funktionierenden Kreditkarte abgebucht werden.
 
Die weitere Planung wird in den nächsten Wochen erst einmal ganz weit nach hinten geschoben. Außer Informationen über den fußballerischen Spielbetrieb kümmere ich mich zunächst um nichts. Die empfehlenswerte Internetz- und Gesichtsbuchseite „LFG – Lebanon Football Guide“ ist sehr interessiert an dem teutonischen Gast und rückt umgehende die zeit- und ortsgenauen Ansetzungen für unser gebuchtes Wochenende heraus. Damit kann man doch theoretisch eine Grobplanung machen, mache ich aber noch nicht. Kate ist da schon viel aktiver. Muss sie aber auch sein. Der immer noch präsente Stempel Israels in ihrem Reisepass könnte dann doch zu dem ein oder anderen Problemchen bei der Einreise führen. Ein neues Reisedokument muss also so schnell wie möglich her, was dann auch problemlos klappt. Ganz schön stylish, so ein neuer Reisepass. Ganz schön stylish auch das von ihr gebuchte Hotel, zum Glück auch eben so günstig. Ein Hoch auf die Frau  - wenigstens eine Person legt hier etwas Ernsthaftigkeit an den Tag. Ich vertröste mich (und nerve damit gleichzeitig Kate) mit der weiteren Planung auf den Zeitpunkt, wenn die Spiele fix bestätigt sind. Bis dahin gilt es nur noch den Transfer von Beirut auf die Götterinsel zu klären. Da meine Recherche hierzu so tiefgründig war wie „Witze“ von Mario Barth, habe ich bei mir lediglich abgespeichert, dass es täglich mehrere Verbindungen für um die 30,-€ oneway gibt. Anscheinend war die Recherche auch genauso niveauvoll wie die gezwungenen Komikversuche des Berliner Volldeppen, gibt es diese Flüge nämlich nicht mehr, als ich dann endlich mal zwecks Buchung in die Pötte komme. Zwar werden sie auf swoodoo noch angezeigt, die Weiterleitung läuft aber ins Leere. Großes Kino, im Endeffekt aber doch Glück im Unglück, wären sie doch von der mittlerweile nicht mehr existenten zypriotischen Cobalt Air durchgeführt worden. So schlagen wir bei den Kollegen von MEA  für Dienstagabend zu. Die aufgerufen 60,-€ pro Person sind zwar doppelt so viel wie kalkuliert, reisen aber auch kein allzu großes Loch in die Kasse.

Zeitsprung
Mittlerweile ist Dienstag, der 30.10. Während sich die Bewohner diverser Bundesländer auf ihren Reformationstag-bedingten freien Tag vorbereiten und amerikanisierte Kinder Kürbisse für Samhain aufschlitzen, aktualisiere ich in schöner Regelmäßigkeit meinen Webbrowser. Dienstags werden meistens die fixen Ansetzungen der libanesischen Fußballwettbewerbe veröffentlicht. So auch heute. Am späten Nachmittag sind die langerwarteten Termine da – und passen natürlich hinten und vorne nicht mit den mir vor Wochen mitgeteilten überein. Genau genommen sind für Samstag in Liga 1 und 2 keine Spiele in Beirut angesetzt. Da die Betreiber der angesprochenen Seite aber wirklich sehr kompetent sind, wird uns (also mir, Kate wird es egal gewesen sein) noch ein Drittligakick empfohlen. Passt. Damit kann dann auch mal die Planung für die viertägige Stippvisite durchgeführt werden. Mit einem auf ein Post-it gekritzeltes „Sa Beirut, So Saida, Mo Byblos, Di Beirut“ ist das dann auch schnell erledigt. Ein Hoch auf meine vertrauenswürdigen Reisevorbereitungen.

Donnerstag, 01.11.
Mittlerweile bin ich beim vierten Versuch, uns über das Onlinesystem von Aegaen einzuchecken. Weder E-Ticketnummer, noch Buchungsreferenz funktionieren. Gleich raste ich komplett aus. Habe ich überhaupt gebucht? Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, waren die Umstände der Buchung ja nicht gerade die Besten. Eine Bestätigung hatte ich aber doch erhalten? Naja, logge ich mich mal in mein Konto ein und gucke, ob da etwas drin steht. Tut es tatsächlich, allerdings lacht mir voller Hohn als Abflugtermin Sonntag, 04.11., entgegen. What the Fuck? Erstmal sammeln und die Lage sondieren. Aha, es gab wohl eine Verschiebung des Fluges. Hätte ich die E-Mail des Buchungsportals Flugladen mit Betreff „Flugplanänderung“, die ich tags zuvor erhalten und in weiser Voraussicht ignoriert hatte, also doch mal lesen sollen. Das sitzt. Jetzt raste ich komplett aus. Kate nimmt die Nachricht etwas besser auf. Nach der erschütternden Einleitung meines Telefonates hat sie zunächst die Befürchtung, es wäre jemand gestorben. Da ist sie dann doch recht froh, dass es sich lediglich um eine läppische Flugverschiebung handelt. Da mir danach für eine großartige Recherche keine Zeit bleibt, kontaktiere ich nach Kate Aegaen und Flugladen. Beide erreiche ich auch – damit war nicht zu rechnen. Und beide können mir sogar helfen. Von Aegaen bekomme ich erzählt, dass sie Flugladen bereits eine Woche nach meiner Buchung über die Verschiebung informiert hatten. Da mich Flugladen aber erst einen Tag zuvor informierte, kann ich den Flug tatsächlich stornieren. Unser großes Glück ist, dass ich entgegen meiner Erinnerung den Rückflug von Zypern als einzelne Buchung und nicht als Gabelflug getätigt hatte. So bleibt dieser bestehen. Eine neue Verbindung nach Hause, um pünktlich zum Heimspiel am Sonntag zu sein, wäre preislich nicht mehr bezahlbar gewesen. Bezahlbar ist aber immerhin ein neuer Flug nach Beirut. In knapp 24 Stunden soll uns nun Pegasus in den Nahen Osten befördern. 185,-€  werden dafür fällig. In Anbetracht der Umstände noch völlig akzeptabel und nur knapp 50,-€ mehr als der ursprüngliche Flug. Ob uns hier noch irgendeine weitere Entschädigung zusteht, weiß ich zum Zeitpunkt des Schreibens noch nicht. Es ist einfach keine Zeit, mich hierüber zu informieren. Das Geld für den stornierten Flug ist jedenfalls schon wieder auf meinem Konto. Das hätte durchaus auch anders ausgehen können.

Freitag, 02.11.
Da Pegasus das Rollfeld des Frankfurter Flughafens immer um 14:05 verlässt, wird ein zusätzlicher halber Tag Urlaub nötig. Suboptimal, wenn am Vormittag noch ein wichtiges Meeting in der Firma stattfindet, dass von der Chefetage natürlich um eine halbe Stunde überzogen wird. Ein Sprint zum Auto und eine Vollgasfahrt nach FFM strapazieren in nicht unerheblichem Maße meine Nerven, bringen mich aber auch halbwegs in eine zeitlich akzeptable Ausgangsposition. Wie gewohnt, will ich am Stadion parken und die letzte Station mit der S-Bahn zurücklegen. Als mir in der Flughafenstraße ein bekanntes Auto entgegenkommt, ahne ich schon Schlimmes. Ede hat einen ähnlichen Plan wie ich, da er heute Richtung Kiew aufbricht. Sein läppischer Kommentar, als sich die Wege unserer Karossen kreuzen, ist lediglich: „Kein Parkplatz frei“. Na toll, ich hatte es fast befürchtet. Das gewonnene Zeitpolster ist somit schneller aufgebraucht als die Bierreserven auf MJs Dachterrasse. An der ehemaligen Rennbahn (und zukünftigem DFB Akademie…) finde ich noch ein freies Plätzchen, das der Sinner-Express für eine Woche belegen darf. Beim Aussteigen bin ich mit den Nerven am Ende. Ich komme nicht in meine Jacke rein, bin nicht in der Lage, mein smartes Telefon zu bedienen und mein Trolley entwickelt ein Eigenleben, so dass er alle drei Meter auf dem unebenem Untergrund hängenbleibt und auf den Boden knallt. Nassgeschwitzt und abgefuckt wie nach einer Last-Minute-Niederlage im Hochsommer erwische ich wenigstens recht schnell ein Taxi. Dass die digitalen Ziffern auf dem Taxameter schneller steigen als MJs Pegel, kann meine Laune auch nicht weiter runterziehen. 18,-€ drücke ich meinem Chauffeur nach den wenigen Kilometern in die Hand. Ich rede es mir schön: „Besser als ein verpasster Flug“.

Mit Betreten des Abflugbereichs des zweiten Terminals und dem Zusammentreffen mit Kate ist die schlechte Laune aber auch vorbei. Ab jetzt überwiegt die Vorfreude. Unterbrochen wird sie nur kurz von den nervigen Passagieren unseres Billigfliegers. Es ist aber auch jedes Mal dasselbe. Dachte ich eigentlich immer, dass sich der Bodensatz der Gesellschaft montagabends in Dresden versammelt, werde ich regelmäßig bei Pegasus, Ryanair und co eines Besseren belehrt. Leute, die zu blöd zum Einsteigen sind, ihren Platz nicht finden, im Gang erstmal ein Schwätzchen halten, während sich hinter ihnen alles staut, kurz vorm Start nochmal aufstehen und ans Handgepäck wollen und natürlich Jubelorkane nach erfolgreicher Landung. Es ist mal wieder das volle Programm. Nicht nur aus ökologischen, auch aus nervenschonenden Gründen sollte man die Scheiße einfach bleiben lassen. Und aus gesundheitlichen. Wenn sich selbst die klitzekleine Kate über die nichtvorhandene Beinfreiheit echauffiert, muss es wirklich eng sein. Entsprechend froh sind wir, als wir – unterbrochen durch den zum Magenverderben genutzten Zwischenstopp in Istanbul - kurz vor Mitternacht in Beirut aufdotzen. Die langanhaltende Jubelorgie der restlichen Passagiere nutzen wir, um als eine der ersten am Immigrationsschalter zu stehen. Die Einreise gestaltet sich mehr als einfach. Der Grenzer redet kein Wort. Nicht einmal die befürchtete Frage, ob wir schon einmal in Israel waren, wird uns gestellt und ich muss so keine Notlüge erfinden. Lediglich alle Stempel werden akribisch begutachtet, bevor kommentarlos ein neuer hinzugefügt wird. Nachdem wir uns mit einheimischen Devisen eingedeckt haben (1€ = 1.700 LBP [Libanesischer Pfund]), machen wir uns auf die Suche nach den Minibussen in die Stadt. Angeblich sollen diese an einem Kreisel ca. 500 Meter außerhalb des Terminals abfahren. Tun sie wohl auch, jedoch nicht mehr zu solch später Zeit. Gewöhnliche Busse gibt es nicht, es bleibt also mal wieder nur die Mafia übrig, die hier übrigens erstaunlich unaufdringlich agiert und einen in Ruhe passieren lässt. In der offiziellen Taxischlange kosten Fahrten in die City fix 45 US Dollar. Ein paar Meter weiter wird uns ein privater Fahrer vermittelt, der für denselben Dienst 50.000 LBP verlangt. Das Rechengenie wird es schon kalkuliert haben: Ziemlich genau 30,-€. Stolzer Preis für die gerade einmal acht Kilometer, aber schwer günstiger machbar zu diesem Zeitpunkt. In den ersten Minuten auf neuem Terrain lernen wir lediglich die Verkehrsregeln kennen, für weitere Beobachtungen ist es zu dunkel. Merke: Es muss schnell gehen. Und Ampeln sind nur eine grobe Empfehlung, was man machen könnte, wie uns unser Fahrer auch unter Lachen mitteilt. Mit einer Vollbremsung halten wir schlussendlich vor unserer Bleibe im Stadtteil Hamra und fallen nur noch müde in die leider getrennten Betten. Good night.

Samstag, 03.11.
Die Nacht war nicht sonderlich lange. Ich bin wohl gerade Zeuge des Abrisses des Nebengebäudes. Zumindest hämmert seit Stunden ein Presslufthammer direkt unter unserem Fenster. Da kann ich auch aufstehen. Ein normaler Mensch kann hier auf keinen Fall schlafen. Kate ist dieser Definition nach kein normaler Mensch, ratzt sie doch seelenruhig vor sich hin und erzählt später, dass sie keinerlei Geräusche wahrgenommen hat. Frauen eben. Eine solche ist es auch, die beim Frühstück unseren Hass auf sich zieht. Marke eingebildete Amitussi, guckt sie mit einem abwertenden und mitleidigem Blick auf uns hinab, vergisst dabei aber, dass sie selbst nur von hinten halbwegs ansehnlich ist. Was eine Kuh. Dass sie die lokalen Speisen verschmäht und sich lieber an ihr selbstmitgebrachtes Müsli hält, passt da nur ins Bild. Wir halten uns da lieber an Manoushi, eine Art mit allerhand Gewürzen belegtes Pizzabrot. Richtig lecker – dazu Halloumi, Oliven, Joghurt und Tomate/Gurke, und schon hat uns die libanesische Küche für sich gewonnen.

Gut gestärkt steht der Hotelwechsel an. Da der ursprünglich gebuchte Aegaen Flug erst mitten in der Nacht gelandet wäre, wollten wir hier auf zusätzliche Kosten verzichten. Da wir jetzt jedoch halbwegs zeitig ankamen, war ein Bett doch von Vorteil, leider jedoch war unser Hotel der nächsten Tage jedoch schon ausgebucht. Der Weg dorthin führt uns einen knappen halben Kilometer über die Hamra Street im gleichnamigen Stadtteil. In der Zeit vor dem Bürgerkrieg (1975-1990) galt sie als eine Art Prachtstraße, danach lag sie längere Zeit brach. Heute blüht das gesamte Viertel wieder mehr und mehr auf. Kaffees und Restaurants en masse, Shoppingmöglichkeiten, Pubs und Hotels geben sich die Klinke in die Hand. Die Kaffees sind zur frühen Tageszeit auch schon alle gut besucht. Frühstücken tun jedoch die wenigsten. Stattdessen hat gefühlt jeder Gast einen Shisha Schlauch in der Hand. Weiterhin fällt jetzt schon die große kulturelle Vielfalt des Landes auf. 18 anerkannte Religionsgemeinschaften gibt es im Libanon, wobei Muslime (ca. 50%, zu gleichen Anteilen Sunniten und Schiiten sowie eine gar nicht mal so kleine Anzahl an Drusen) und maronitische Christen (ca. 40%) den Löwenanteil bilden. Um allen Konfessionen eine Stimme zu geben, ist die Regierung und das Parlament nach dem Grundsatz der konfessionellen Parität besetzt. Die 128 Sitze im Parlament müssen anteilig von Anhängern der verschiedenen Religionen besetzt sein. Die höchsten Ämter werden von Christen (Staatsoberhaupt und Befehlshaber der Armee) sowie je einem Sunniten (Regierungschef) und Schiiten (Parlamentspräsident) ausgeführt. So versucht man, die wenig stabile politische Lage im Griff zu halten.

Irgendwelche Spannungen bemerken wir in den Tagen unseres Aufenthaltes jedenfalls nicht. Im Gegenteil – alles scheint in friedlicher Koexistenz zu leben. Da sitzen in der Kneipe an einem Tisch komplett verhüllte Frauen und direkt daneben eine schlecht operierte Möchtegernschönheit vor ihrem alkoholischen Cocktail. Gemeinsam scheinen sie nur zu haben, dass beide natürlich an der Nargila blubbern. Ansonsten lässt jeder den anderen so leben, wie er es für richtig hält. Es kann so einfach sein. Dass es das in der Realität leider nicht ist, zeigt die Vergangenheit des arg gebeutelten Landes. Nicht nur der 15jährige Bürgerkrieg, auch danach fielen immer wieder sowohl hochrangige Regierungsmitglieder als auch unschuldige Zivilisten Anschlägen und Attentaten zum Opfer. Dinge, die wir uns auf den ersten Metern noch gar nicht richtig vorstellen können. Es ist alles so friedlich und lebensfroh. Wir sehen bei jetzt schon tropischen Temperaturen mehr Miniröcke als Kopftücher und die gerade volljährige Jugend geht neben dem Shisharauchen ihrem zweiten großen Hobby nach: Die aufgemotzten Karren mit heruntergelassenen Scheiben und lauter Musik spazieren fahren.

Ob es auch eine dieser Beobachtungen ist, die mich ablenkt, weiß ich nicht. Ich höre Kate erst nur „Achtung, Hundekacke“ sagen, nur unwesentlich später höre ich ein lautes Knatschgeräusch. Super, da ist mal wieder jemand im wahrsten Sinne des Wortes in die Scheiße getreten. Und diesmal kann ich es nicht Kate in die Schuhe schieben, wie damals in Kuba. Der Haufen muss aber relativ frisch und relativ riesig gewesen sein, so unrund wie ich auf den folgenden Metern laufe. Falls jemand vor hat, in den nächsten Tagen in Beirut zu nächtigen: Ich würde das „Queens Suite Hotel“ erstmal meiden. Unbestätigten Gerüchten zu Folge, soll die Fußabtreter Matte im größeren Umfang von einem Nicht-Hotel-Gast benutzt worden sein. Ekelhaft – Kates Spott habe ich redlich verdient. Ob ich auch beim Hundekot Länderpunkte sammeln würde? Dann hätte ich ja schon mehr als Ede beim Fußball, so das gehässige und laut lachende Lästermaul. Ich lasse es einfach über mich ergehen und erfreue mich darüber, dass wenigstens mein guter, alter Trolley nicht durch den Haufen gerollt ist. 100 Meter nach diesem Malheur haben wir dann auch die Hamra Urban Gardens erreicht, wo wir die folgenden drei Nächte verbringen sollen. 25,-€ pro Person und Nacht, inkl. Frühstück, Rooftopbar und Pool sowie Gratiszugang im öffentlichen Fitnessstudio. Da kann man nicht meckern.

Das Zimmer dürfen wir zu dieser frühen Zeit freilich noch nicht beziehen, so dass wir uns auf zur weiteren Stadterkundung der 2-Mio-Metropole machen. Vorbei an der amerikanischen Universität mit ihren 7.000 Studenten führt uns der Weg auf die Corniche, die 5 km lange Uferpromenade. Hier herrscht reges Treiben: Jogger trotzen den 30 Grad Lufttemperatur, Familien genießen die Sonne beim gemeinsamen Spaziergang und Angler sitzen hinter ihrem Fischfanggerät und genießen das Leben – und eine Shisha. Neue Gebäude schießen überall aus dem Boden, irgendwelche Ruinen oder Kriegsüberbleibsel sieht man hier nur noch ganz selten. Wir passieren das alte Stadion des größten Vereins des Landes (Nejmeh Club), das direkt am Wasser liegt, aber leider nicht begehbar ist, obwohl es einen in seinem völlig abgerotzten Zustand sehr anlacht. Eigentlich könnte es hier so schön, gäbe es nicht ein Problem: Plastikmüll! Überall, wo der Untergrund nicht geteert oder gepflastert ist, türmt sich der Müll. Auf den Felsen, im Gebüsch, einfach so auf dem Boden. Es ist eine Schande. Mich macht das ehrlich fuchsig. Und ja, vermutlich haben die Leute hier andere Probleme und überhaupt kein Bewusstsein dafür, aber es kann doch nicht so schwer sein, wenigstens für etwas Ordnung zu sorgen und nicht alles einzusauen. Ziemlich am Ende der Corniche befinden sich die Taubenfelsen, die vor einer Steilküste im Meer stehen und als eines der Wahrzeichen Beiruts gelten. Für $10 kann man auch eine fünfminütige Bootstour um sie herum machen, was wir uns aber berechtigterweise sparen. Stattdessen beobachten wir die Szenerie vom Bootsableger aus. Nicht nur der Preis, auch dass die kleinen Kanus mit großen Boxen, die arabische Musik in übertriebener Lautstärke abspielen, ausgestattet sind, lässt uns unsere Entscheidung nicht bereuen. Ob die zahlreichen anderen Touristen hier unten ihre Fotoshootings und Selbstportraits im Nachhinein bereuen werden, müssen sie selbst entscheiden. Ein Bild zu schießen, auf dem keine leere Plastikflasche ist, dürfte jedenfalls unmöglich sein. Da wundert es auch nicht, dass die Kulisse durch ein ausgebranntes Autowrack abgerundet wird – wie auch immer das hier hingekommen ist.

Wir ziehen derweil mal weiter. Vorbei am krassen Mövenpick Hotel und dem öffentlichen Sandstrand, biegen wir alsbald wieder stadteinwärts ab. Irgendwo hier in der Nähe soll in gar nicht mal so ferner Zukunft ein Drittligaspiel stattfinden. Dritte Liga Libanon - Wer dazu irgendwelche Infos in den Tiefen des Netzes findet, darf sich gerne bei mir melden. Dementsprechend wenig verwundert bin ich dann auch, dass das anvisierte Stadion nicht zu sehen ist, obwohl wir eigentlich direkt davor stehen müssten. An der Stelle, wo es Google Maps verortet, befindet sich lediglich eine brachliegende (und natürlich vermüllte) Wiese, auf der außer einem Bagger und einem wild galoppierenden Pferd nichts zu sehen ist. Und einem Penis. Den blicken wir nämlich direkt an, als wir nach dem Prachtexemplar von Gaul schauen wollen. Es ist auch einfach eine super Idee von dem Besitzer des angesprochenen Phallus, direkt hinter dem Zaun in Pissrichtung Bürgersteig zu pinkeln. Skurril, bringt uns aber auch nicht weiter. Trotz Präsentierens der Outdoortoilette vollziehen wir unser kleines Geschäft im nahegelegenen Spinneys (eine Hypermarktkette). Dort gibt es nicht nur Klos und leckere Speisen, sondern auch Wlan. Yo, das Al Safa Stadion muss tatsächlich hier sein. Also nochmal um den Block gelaufen und siehe da: Eine Viertelstunde vor Anpfiff stehen wir tatsächlich vorm Ground. Einziges Problem an der Sache: Dieser ist verschlossen. Und es ist kein Mensch in der Nähe. Ich bin mal wieder kurz vorm Platzen. Das kann jetzt wirklich nicht wahr sein. Ich hatte mir den Kick doch gestern noch bestätigen lassen. Und heute Morgen war er auch noch auf der Facebookseite des gastgebenden Vereins zu finden. Warum nur? Was soll das? Kate traut sich schon gar nichts zu sagen, während ich so vor mich hin fluche. Diesen Zustand kennt sie mittlerweile – leider. Ich hasse den nämlich. Alter, es sind nicht einmal Geräusche aus dem Inneren zu hören. Nichts. Niente. Nada. Tote Hose hier. Abfuck hoch zehn. Das zweite Mal, dass ich heute in Scheiße trete – diesmal sprichwörtlich…

„Da fliegt ein Ball übers Dach!“ Fast schreie ich, als ich das für mich Unmögliche sehe. Zeitgleich hält ein Taxi neben uns. Meine  Erklärung, dass wir kein Taxi brauchen, sondern nur einen Zugang ins Innere des Stadions, verwirrt ihn völlig. Er fährt weiter, wir ziehen weiter. Hier geht es nicht rein, also probieren wir es von der anderen Seite. Auf einmal geht das Tor auf und ein im Repräsentationsanzug gekleideter Mann springt auf die Pferdekoppel. Sofort kombiniere ich messerscharf: Der sucht den eben übers Dach geschossenen Ball. Weiterhin trägt meine detektivische Meisterleistung folgendes zu Tage: Das Tor ist immer noch offen, also nix wie rein da. Und so stehen wir dann auf dem künstlichen Grün neben der Eckfahne und zumindest ich bekomme den Mund nicht mehr geschlossen. Während zwei Meter neben uns Eckstöße ausgeführt werden, nimmt niemand von uns Notiz. Kein Mensch fragt sich, wieso hier auf einmal zwei ortsfremde Menschen stehen, von denen eine eher peinlich berührt ist, während der andere diese utopische Bruchbude aus allen Winkeln fotografiert. Mitten ins Wohngebiet, fast schon in einem Hinterhof, wurde hier der 4.000er reingezimmert und seit Eröffnung nicht mehr renoviert, womit sich die Tribünen aber noch in besserem Zustand befinden als die dahinter stehenden Häuser. Eine dieser Wohnungen grenzt gar direkt an die Außenlinie hinter der Eckfahne, der zugehörige Balkon der bewohnenden Familie ist besser als jede Loge. Während des Spiels sammelt sich auch die Sippschaft dort, um teilweise das Spiel zu verfolgen, teilweise aber auch die Wäsche zu machen. Gegenüber, wo wir gerade stehen – befindet sich lediglich eine Wand. Auf der Gegengarde sind wenige Stufen, auf denen wahrscheinlich noch nie ein Mensch gestanden hat, und die etwas erhöhte Haupttribüne scheint jeden Moment zusammenbrechen zu können. Auf diese müssen wir jetzt aber auch. Die Frage ist nur: Wie? Auf Nachfrage bei einem Betreuer können wir nicht den direkten Weg über den Platz und durch die Kabinen wählen, sondern müssen den offiziellen Eingang suchen. Sein Fingerzeig bedeutet uns, dass dieser Luftlinie vielleicht 150 Meter entfernt, für uns so aber nicht erreichbar ist. Wir müssen außen rum.

Einmal rund ums Karree. Und das zieht sich. Erst die Hauptstraße hoch, an der Cola-Busstation (die wir in den nächsten Tagen noch häufiger sehen sollen) links runter, dann in eine enge Seitenstraße und da dann hoffen, dass wir irgendwo den Eingang sehen. Auf den letzten Metern herrscht herrliches Chaos: Die Wohnungen sind nicht die allerbesten und gefühlt jede zweite hat im Erdgeschoss einen Friseurladen oder eine Autowerkstatt. Die Anwohner nutzen den Samstag jedoch nicht zum Arbeiten, sondern machen das, was sie am besten können: Wasserpfeife blubbern. Beim Chillen macht dem Libanesen keiner was vor. Fakt. Beim Autofahren sind sie aber auch weit vorne dabei. Die Straße ist ja schon eng, der Untergrund schlechter als am Erlenbruch, und trotzdem heizen die hier durch als würde gleich ein Spiel angepfiffen und es bestünde die Gefahr, zu spät zu kommen. Da hier in der Nähe gleich ein Spiel angepfiffen wird und die Gefahr besteht, zu spät zu kommen, eilen wir auch etwas und haben keine Zeit für weitere Beobachtungen. Und tatsächlich, nach weiteren verwinkelten Links-Rechts-Kombinationen stehen wir vorm Eingang (nachdem wir zwischendurch schon in einer Tiefgarage und in einem Hinterhof gelandet waren) – lt. Schrittzähler haben wir vom anderen Eck des Stadion lediglich 1,6 km zurückgelegt. Aus einem unscheinbaren Loch in der Wand verkauft uns ein zahnloser, älterer Herr zwei Karten, die meinen Arabischkenntnissen nach zu urteilen tatsächlich die Spielpaarung zeigen, für umgerechnet 1,20€ das Stück. Einen Meter daneben sind wir diese schon wieder los und die guten Papierfetzen liegen in zwei Hälften auf dem Boden. Kate hat mir mal empfohlen, aufgrund meines ständigen Gejammers, wenn so etwas passiert, einfach ein Foto der Karte nach Erwerb zu schießen. Ratet mal, wer es wieder nicht gemacht hat. So muss ich den Kontrolleur versuchen zu überzeugen, dass das Ticket ein wichtiges Souvenir für mich darstellt. Meine Worte „Collection“ und „Souvenir“ versteht er nicht, so dass ich mich einfach bücke und ein Stück aufheben will, was die drei schwerbewaffneten, als Ordner fungierenden Militärs auf den Plan ruft. Zum Glück verhaften sie mich nicht, sondern klären unter Lachen das Schauspiel auf, woraufhin mir der Kartenabreißer drei defekte Fetzen in die Hand drückt. Shukran. Kate ist die ganze Situation hochgradig peinlich, ich aber freue mich, dass kein weiteres Loch im Eintrittskartenordner klafft – zumindest bis ich später beim Betrachten feststelle, dass mir der Experte dreimal die gleiche Hälfte gegeben hat. Jetzt aber rein.

Homenmen – AC Sporting 1:2
300 Zuschauer, 3. Liga Libanon
Al Safa Stadium, Beirut


Das Al Safa Stadion ist eigentlich die Heimatstätte des Safa SC, wird aber wie eigentlich jedes Stadion im Libanon auch von anderen Teams genutzt. Generell kann man sagen, dass es überhaupt keine Logik gibt, welche Mannschaft in welchem Stadion spielt. Man hat das Gefühl, das wird jede Woche gewürfelt. Da kann ein Team aus Beirut auch gerne mal drei „Heimspiele“ in drei verschiedenen Stadien machen, quer übers Land verteilt, davon aber keines in Beirut selbst. Die Hoffnung, so weniger gewaltbereites Publikum im Stadion zu haben, kann eigentlich keine Begründung hierfür sein, da das größte Derby zwischen Nejmeh und Al Ansar immer vor großer Kulisse im Nationalstadion ausgetragen wird. Somit lautet die logischere Erklärung: Wir haben es hier einfach mit einem Chaosverband zu tun.

„Gastgeber“ heute ist Homenmen Beirut, einer der großen Traditionsvereine, wenn man das so sagen darf, mehrfacher Meister und Pokalsieger, auch wenn die großen Erfolge schon lange zurückliegen. Seit 2004 ist man nicht mehr erstklassig und wird es wohl auch nicht mehr werden. Interessanter als die Erfolge der Vergangenheit ist aber der Hintergrund. Homenmen  bedeutet übersetzt so etwas wie „Armenische Sportvereinigung“. Im Zuge des Völkermordes der Türken an den Armeniern ließen sich viele Armenier im Nahen Osten und besonders  im Libanon nieder. Heute macht der Anteil der Armenier noch immer 4% der Gesamtbevölkerung aus. 1921 wurde von diesen in Aleppo, Syrien die Vereinigung Homenmen gegründet, im selben Jahr dann auch das Chapter in Beirut. Heute hat Homenmen in vielen Ländern der armenischen Diaspora auf allen Kontinenten einen Ableger. Nicht zu verwechseln sind sie übrigens mit dem drei Jahre später gegründeten Homenetmen, die so ziemlich das gleiche Ziel verfolgen, und zu denen sich zumindest in der Fußballsparte eine große Rivalität entwickelt hat. Bei den Derbys gegeneinander soll es auch regelmäßig geknallt haben. Heute spielt man leider in verschiedenen Ligen. Homenetmen gurkt noch irgendwo in der zweiten Division rum.

Geschätzte 200 Zuschauer sind im Stadion, als wir es betreten, was ungefähr 193 mehr sind, als ich im Vorfeld geschätzt hätte. Wir befinden uns im linken Teil der Tribüne unter den Fans und Angehörigen Homenmens, während auf den Ehrenplätzen zu unserer Rechten hinter dem dickmaschigen Stacheldraht ein paar versprengte dem Gast die Daumen drücken. Sogar eine Kamera verfolgt das Spiel. Ob es tatsächlich bewegte Bilder ins Fernsehen geschafft haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Wobei ich mich schon frage, wer so etwas anschauen würde? Sogar Kate fragt mich zwischendurch, ob das Niveau wirklich so schlecht ist oder sie nur keine Ahnung habe. Da es an Kates Expertise jedoch nichts zu bemängeln gibt, kann ich die erstgestellte Frage besten Gewissen bejahen. Meine Güte, was treiben die da unten? Aber ohne Probleme könnte ich da mitmischen. Im Training wird wohl wenig Wert auf eine taktische Ausbildung gelegt, dafür eher die individuellen Fähigkeiten geschult. Wobei dies auch nur beim Zehner von Sporting von Erfolg gekrönt ist, ist dieser doch das Paradebeispiel für einen brotlosen Künstler. Drei Übersteiger, zweimal mit der Hacke, etwas mit dem Ärschi wackeln und kurz darauf den Ball verlieren, so sieht sein Spiel aus. Trotzdem ist er fußballerisch noch der mit weitem Abstand beste im ersten Durchgang, der folglich torlos abgepfiffen wird. Vom Publikum gab es bis hierher keinerlei Äußerungen. Die einzige Geräuschkulisse besteht aus dem permanenten Knacken irgendwelcher Körner. Wir reihen uns ganz selbstbewusst ebenfalls unter den Nussknackern ein, haben aber weniger Erfolg dabei, das essbare Innere aus der Schale zu bekommen. Zur Beschäftigungstherapie taugt es aber allemal.

In der Pause verdoppelt sich das Zuschaueraufkommen plötzlich. Es kostet wohl keinen Eintritt mehr. Selbst von uns aus gegenüber wird das Spiel jetzt verfolgt: Ein einsamer Junge sitzt in einem Baum und schwenkt eine Deutschlandfahne – nun denn. Ob das vergrößerte Publikum der Grund dafür ist, dass es gleich viel emotionaler wird, sei mal dahingestellt. Kurz nach Wiederanpfiff netzen die Armenier nach einem Eckstoß zum ersten Mal ein. Ich gebe zu, mit diesen Jubelschreien hätte ich nicht gerechnet. Ein langgezogenes „Hoooooo-Men-Men“ im Anschluss ist die erste – und letzte – akustische Unterstützung, danach wird sich aufs Pöbeln konzentriert. Und wie. Als Rädelsführer entpuppt sich ein etwas untersetzter Herr zu meiner Linken, der optisch an Kim Jung Un erinnert und urplötzlich gegen alles und jeden schimpft. Es dauert nicht lange, da hat er weitere Leute angestachelt, mit ihm raus zu rennen und Unruhe zu stiften. Lange sind sie nicht weg. Die aufpassende Miliz hat Wind von der Aktion bekommen. Dem aufgeheizten Fünf-Mann-Mob wird jedoch nicht der Wiederzutritt verwehrt, sondern im Gegenteil müssen sie wieder auf ihren altbekannten Platz und dürfen weiter Hasstiraden loswerden. Mitten in diese Aktion hinein macht der Torwart Homenmens den Karius, wodurch wieder spielerischer Gleichstand herrscht. Nicht nur aufgrund dieses Lapsus‘ bin ich der Meinung, dass hier zwischen den Pfosten einer der schlechtesten Vertreter seines Fachs steht, den ich jemals bewundern durfte. Technik, Timing, fußballerisches Können- da war nix da. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, straft er mich nur wenige Augenblicke Lügen und fischt einen gar nicht mal so schlecht geschossenen Strafstoß aus dem Eck, nur um danach vier Eins gegen Eins Situationen für sich zu entscheiden. Während ich noch überlege, meine Meinung zu revidieren, ist er beim 1:2 dann doch noch machtlos. Wieder rastet das Publikum aus. Die ersten von wildem Geschreie untermalten Stürme an die Plexiglasscheibe beginnen. Dann besinnt man sich aber wieder und schreit in den letzten Minuten die eigene Mannschaft nach vorne. Alle. Und alle wild durcheinander. Angestachelt davon nimmt auf dem künstlichen Geläuf der glatzköpfige 16er das Spiel in die Hand und bewirbt sich zum zweiten brotlosen Künstler des Tages. Jede Aktion muss über ihn gehen, gelingen tut ihm nichts. Selbst für Einwürfe ist er sich nicht zu schade, die er auch gerne zu sich selbst wirft – wenn er sie nicht einem Gegner ins Gesicht donnert. So geschieht es in der Nachspielzeit direkt vor unseren Plätzen. Der Abgeworfene realisiert das Geschehene etwas zeitverzögert und macht dann vor dem eh schon unter Adrenalin stehenden Pöbel den Norbert Meier. Noch hält man sich im Zaum. Als das Spiel kurz darauf aus ist, entlädt sich alles. Volle Flasche fliegen aufs Spielfeld, die Plastikwand wird gestürmt, gegnerische Spieler und Betreuer bespuckt und beschimpft. Das alles unter Augen der Miliz, die die MGs im Anschlag halten, ansonsten aber nicht eingreifen. Da sitzen die Leute hier in aller Seelenruhe eine Halbzeit auf den Betonstufen und schauen gemütlich Fußball, um dann beim kleinsten Anlass völlig auszurasten. Ganz vorne dabei natürlich wieder uns Kim Jung Un. Da uns das ganze Spektakel zu undurchschaubar ist, beobachten wir es lieber aus sicherer Distanz, bevor wir uns völlig zufrieden auf den Heimweg machen. Dritte Liga Libanon – was sich im ersten Moment als Notlösung angehört hat, entpuppt sich im Endeffekt als absoluter Volltreffer.

Den Heimweg legen wir wieder auf unseren Füßen zurück. 2,5 Kilometer sind es bis zu unserem temporären Zuhause, die hauptsächlich geradeaus durch architektonisch nicht gerade schönes, dafür aber sehr geschäftiges und wuseliges Gebiet führen. Hier ein Schawarma-Laden, da eine Bäckerei – der Hunger kommt beim Laufen. Laufen ist aber eher optimistisch ausgedrückt, viel eher handelt es sich um einen Hindernisparcours. Der Bürgersteig ist an sich schon nicht sonderlich breit. Wenn dann aber auch noch Autos darauf parken, ist ein schnelles Vorwärtskommen ausgeschlossen. Überhaupt, wie die hier parken. Das Sprichwort „Da passt kein Blatt Papier mehr dazwischen“ war selten zutreffender als hier. Zum Glück sind wir so beweglich in der Hüfte, dass wir uns halbwegs gut durch die Hindernisse schlängeln können. Versperrt kein Auto den Weg, machen dies Mülltonnen oder Bäume. Oder Plastikstühle. Vor jedem Hauseingang sitzen Leute auf eben diesen und spielen Backgammon. Und rauchen Shisha. Natural Born Chillers eben. Aufpassen muss man außerdem bei Straßenüberquerungen. Tatsächlich gibt es hier Fußgängerampeln. Diese sind aber mittlerweile völlig zugewachsen, so dass ich das rote Männchen nur selten erblicke, dementsprechend aber auch meistens einfach blind über die Straße laufe. Zumindest bis zu dem Moment, an dem mich Kate zurückpfeift. So stehe ich dann eben mitten auf der Kreuzung, während um mich herum die Autos sausen. Also: Augen auf beim Stadtrundgang! Fortan bewege ich mich tatsächlich etwas vorausschauender durch die Gegend. Wem das hier aber alles zu gefährlich ist, der hat auch kein Problem, einen motorisierten Untersatz zu finden. Gefühlt jeder ist ein Taxifahrer, und jeder macht einen auf seine Dienste aufmerksam. Liest sich bestimmt nervig, ist in der Realität aber total unaufdringlich. Die vorbeifahrende Droschke hupt einmal kurz, und wenn man den Kopf schüttelt, fährt sie weiter. Überhaupt kann man das so auch auf die ganze Atmosphäre in der Stadt übertragen. Es ist alles total unaufdringlich und entspannt. Selten sind wir so sorglos durch die Gegend geschlendert wie hier. Und wenn einem mal jemand mal etwas aufschwätzen will, dann akzeptiert er auch ein einfaches „Nein“ und lässt einen danach in Ruhe. Man merkt, dass die Leute hier noch über jeden Touristen froh sind und nicht nur das Melkvieh sehen. Stattdessen wird uns überall super freundlich und interessiert begegnet.

So auch, als wir unser Zimmer beziehen wollen. Und dabei fällt es der Rezeptionistin bestimmt nicht leicht, ruhig zu bleiben, so wie ich mich aufführe. Vor zwei Minuten hatte ich noch meinen Stoffbeutel samt darin befindlichen Reisepass in der Hand. Jetzt nicht mehr. Wo ist denn dieses Scheißding hin? Ich laufe auf und ab durch die Lobby, kontrolliere alle Taschen mehrfach, werde aber nicht fündig. Da zweifelt man an seinem Verstand. Ernsthaft: So was Hohles wie mich gibt es kein zweites Mal. Ich habe ja das beste Langzeitgedächtnis der Welt. Kann mich auf den Tag genau an die kleinsten Details meiner Kindheit erinnern, kenne noch Handynummern von seit Jahren nicht gesehenen Schulkollegen, aber wehe, es geht um Dinge, die vor wenigen Sekunden passiert sind. Wie oft suche ich zu Hause mein Handy oder den Autoschlüssel, obwohl ich ihn kurz zuvor noch in der Hand hatte. Es ist unfassbar. Und nun also einen gar nicht mal so kleinen Stoffbeutel. Ich würde am liebsten schreien, Kate hindert mich aber daran. Kurze Zeit später fragt sie mich, „ob ich diesen Stoffbeutel meinen würde“. Ja, meine ich. Wo kommt der denn auf einmal her? Das Rätsel kann nicht gelöst werden, erleichtert bin ich aber allemal. Auf den Schock gehe ich erstmal ins Fitnessstudio, danach geht’s raus Essen. In der ausgewählten Lokalität sind wir die einzigen Touristen, die einzigen, die Essen bestellen und natürlich die einzigen, die keine Shisha blubbern. Die mit riesigen Vorschusslorbeeren ausgestattete libanesische Küche kann diese auch voll und ganz bestätigen. Hummus, Falafel, Fleischspieße, gegrilltes Gemüse, das alles exotisch gewürzt und leicht spicy – ein Gedicht. Und dafür, dass Beirut als teures Pflaster gilt und wir uns auf einer Hauptausgehstraße befinden, auch gar nicht so teuer. In der Heimat hätten wir definitiv mehr bezahlt. Nach einer Kugel Granatapfeleis (Bombe!) gönnen wir uns noch den kostenlosen Welcome Drink in der Rooftop Bar unseres Hotels, in der schon ein DJ für wummernde elektronische Beats sorgt. Mehr als eine Flasche des lokalen Bieres Almaza, das geschmacklich eine Mischung zwischen einem nichtssagenden spanischen Gebräu und Mineralwasser ist, schaffen wir aber nicht, sondern ziehen das Bett der Party vor. Man ist eben auch keine 20 mehr.

to be continued...

PS: Bilder folgen
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Cooler Bericht.

Hab ihn dann doch ganz gelesen.

Sehr atmosphärisch geschrieben und die Beschreibung der zweiten Halbzeit ist zum totlachen.
Lese dann gerne die nächsten Folgen.
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Großartig!
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Schöner Bericht. Hoffe es geht bald weiter.
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Klasse, vielen Dank !

Sehr unterhaltsam
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Zwischendurch musste ich mehrmals lachen...vor allem den 5-Mann Mob mit Rädelsführer Kim un jong hätte ich gerne gesehen....
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Klasse, vielen Dank!
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Wow... wieder mal ein Ort, wo ich wohl niemals hinkommen werde, sehr anschaulich geschildert... fast so als wäre man dabei gewesen!
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Fantastisch, wie immer.

Das Flutlichtmastenbild ist einfach eine Granate.
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Sensationell geschrieben, dazke!
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Fantastisch... Und Kim Jong Un hab ich auch gefunden
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Da fehlt ein X in der Überschrift
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Wahnsinn sich so eine Mühe zu machen und die Erlebnisse aufzuschreiben Respekt

ich bin auch schon viel rumgekommen, aber Libanon ist eine absolut weisse Weste für mich!
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Toller Bericht, der bei mir direkt Fernweh auslöst. Vielen Dank dafür.
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echt großes kino, vielen dank dafür.
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Sehr schöner Bericht, von dem ich vieles nachvollziehen konnte. Und für mich ist es vor allem schön zu sehen, dass jemand den gleichen Gedankengang hatte wie ich, für den ich von den meisten Leuten nur komisch angeschaut wurde... (schon wieder Zypern --> was liegt da um die Ecke? --> auf nach Libanon).

Ich habe mir dann lediglich ein Spiel am Sonntag angeschaut (1. Liga: Al-Ansar - Shabab al-Ghazieh).  Leider habe ich bei weitem nicht dein Schreibtalent, so dass ich keinen großen Bericht darüber schreiben kann, aber zumindest eine kleine Version werde ich mal versuchen...

Deinen Frust bei der Suche nach dem richtigen Stadion kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich war bis 45 Minuten vor Anpfiff der Meinung, dass das Spiel im Stadion Municipal in Beirut stattfindet. Dummerweise hatten meine spärlichen Quellen nicht recht und das Stadion war bis auf einen einzelnen Soldaten komplett verlassen. Zum Glück kannte sich aber mein Uber-Fahrer ein bisschen im libanesichen Fußball aus und war auch bereit mir zu helfen, obwohl er Anhänger vom großen Rivalen El-Nejmeh ist, so dass er eine (rein auf arabische) Seite kannte, auf der die Spiele mit Stadion und Zeit angekündigt wurden. So fand das Spiel in Saidon - 40 km südlich von Beirut statt.
Nun gut, nachdem ich spontan entschieden hatte, dass die 33 Dollar für das Uber mich weniger stören, als das Verpassen des Spiels, (besonders ärgerlich, dass ich mir einen Mietwagen erst für den nächsten Tag gebucht hatte, den hätte ich jetzt schon sehr gut gebrauchen können) habe ich es genau pünktlich zum Anpfiff ins Stadion geschafft.
Das Spiel war dann passend zu meinem Zustand (ich wurde am Abend zuvor von zwei Libanesinnen überzeugt, dass Arak deutlich besser schmeckt als Ouzo - die Auswirkung am nächsten Tag ist aber die selbe). Und durch das klare 3:0 des Heimvereins war auch wenig Spannung im Spiel. Aber dennoch hatte Al-Ansar eine durchaus aktive Fanszene, so dass auch immer mal wieder Stimmung aufkam.
Al-Ansar ist wohl der muslimische Verein Libanons. Dies zeigte sich nicht nur dadurch, dass die Vereinsfarben rein grün sind, sondern dass es im Stadion keinerlei Alkohol zu kaufen gab und viele Zuschauer in der Halbzeit oder auch während des Spiels mit Beten Richtung Mekka beschäftigt waren. Hier wurde aber anstatt des üblichen Teppichs auf, bzw. vor einem Trikot von Al-Ansar gebetet. Dennoch glaube ich, dass das Spiel auch ohne göttlichen Beistand gewonnen worden wäre...
Zurück habe ich dann den Bus genommen, der mit 1,50 Dollar deutlich günstiger als die Hinfahrt war.

Die nächsten zwei Tage habe ich mir dann den libanesischen Verkehr - der leicht unterschiedlich zum deutschen Verkehr ist -  mal als Fahrer angeschaut, habe spontan noch vier Mitfahrer gefunden und bin ohne bestimmtes Ziel durch die Berge Libanons gefahren. So hatte ich noch zwei entspannende, aber sehr intensive Tage ohne Fußball, bevor es dann weiter nach Zypern ging.
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Sehr schöner Bericht, von dem ich vieles nachvollziehen konnte. Und für mich ist es vor allem schön zu sehen, dass jemand den gleichen Gedankengang hatte wie ich, für den ich von den meisten Leuten nur komisch angeschaut wurde... (schon wieder Zypern --> was liegt da um die Ecke? --> auf nach Libanon).

Ich habe mir dann lediglich ein Spiel am Sonntag angeschaut (1. Liga: Al-Ansar - Shabab al-Ghazieh).  Leider habe ich bei weitem nicht dein Schreibtalent, so dass ich keinen großen Bericht darüber schreiben kann, aber zumindest eine kleine Version werde ich mal versuchen...

Deinen Frust bei der Suche nach dem richtigen Stadion kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich war bis 45 Minuten vor Anpfiff der Meinung, dass das Spiel im Stadion Municipal in Beirut stattfindet. Dummerweise hatten meine spärlichen Quellen nicht recht und das Stadion war bis auf einen einzelnen Soldaten komplett verlassen. Zum Glück kannte sich aber mein Uber-Fahrer ein bisschen im libanesichen Fußball aus und war auch bereit mir zu helfen, obwohl er Anhänger vom großen Rivalen El-Nejmeh ist, so dass er eine (rein auf arabische) Seite kannte, auf der die Spiele mit Stadion und Zeit angekündigt wurden. So fand das Spiel in Saidon - 40 km südlich von Beirut statt.
Nun gut, nachdem ich spontan entschieden hatte, dass die 33 Dollar für das Uber mich weniger stören, als das Verpassen des Spiels, (besonders ärgerlich, dass ich mir einen Mietwagen erst für den nächsten Tag gebucht hatte, den hätte ich jetzt schon sehr gut gebrauchen können) habe ich es genau pünktlich zum Anpfiff ins Stadion geschafft.
Das Spiel war dann passend zu meinem Zustand (ich wurde am Abend zuvor von zwei Libanesinnen überzeugt, dass Arak deutlich besser schmeckt als Ouzo - die Auswirkung am nächsten Tag ist aber die selbe). Und durch das klare 3:0 des Heimvereins war auch wenig Spannung im Spiel. Aber dennoch hatte Al-Ansar eine durchaus aktive Fanszene, so dass auch immer mal wieder Stimmung aufkam.
Al-Ansar ist wohl der muslimische Verein Libanons. Dies zeigte sich nicht nur dadurch, dass die Vereinsfarben rein grün sind, sondern dass es im Stadion keinerlei Alkohol zu kaufen gab und viele Zuschauer in der Halbzeit oder auch während des Spiels mit Beten Richtung Mekka beschäftigt waren. Hier wurde aber anstatt des üblichen Teppichs auf, bzw. vor einem Trikot von Al-Ansar gebetet. Dennoch glaube ich, dass das Spiel auch ohne göttlichen Beistand gewonnen worden wäre...
Zurück habe ich dann den Bus genommen, der mit 1,50 Dollar deutlich günstiger als die Hinfahrt war.

Die nächsten zwei Tage habe ich mir dann den libanesischen Verkehr - der leicht unterschiedlich zum deutschen Verkehr ist -  mal als Fahrer angeschaut, habe spontan noch vier Mitfahrer gefunden und bin ohne bestimmtes Ziel durch die Berge Libanons gefahren. So hatte ich noch zwei entspannende, aber sehr intensive Tage ohne Fußball, bevor es dann weiter nach Zypern ging.
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Venceremos schrieb:

Sehr schöner Bericht, von dem ich vieles nachvollziehen konnte. Und für mich ist es vor allem schön zu sehen, dass jemand den gleichen Gedankengang hatte wie ich, für den ich von den meisten Leuten nur komisch angeschaut wurde... (schon wieder Zypern --> was liegt da um die Ecke? --> auf nach Libanon).

Ich habe mir dann lediglich ein Spiel am Sonntag angeschaut (1. Liga: Al-Ansar - Shabab al-Ghazieh).  Leider habe ich bei weitem nicht dein Schreibtalent, so dass ich keinen großen Bericht darüber schreiben kann, aber zumindest eine kleine Version werde ich mal versuchen...


Das ist ja witzig, dass noch jemand denselben Anreiseweg hatte
Danke auch für deinen Bericht. Der ist doch super!

Beim selben Spiel waren wir Sonntag dann übrigens auch. Der Bericht dazu ist aber immer noch in Arbeit.

Und auch vielen Dank an alle anderen für die positiven Rückmeldungen. Das freut mich ehrlich immer, wenn die Texte den Leuten gefallen
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Trommelwirbel - Teil 2 ist tatsächlich fertig geworden. Daher ohne langen Schnick Schnack direkt rein
(wie gehabt werden Bilder nachgereicht. Das bedarf aber noch einiger Bearbeitung. Bitte um Geduld):

Sonntag, 04.11.
Beim Frühstück lobt Kate die gut isolierten Wände unseres Zimmers. Keinen Mucks hat sie von der Straße gehört und prima geschlafen. Etwas übermüdet entgegne ich nur, dass der DJ um 1:30 Uhr die Musik abgedreht hat. Bis dahin hätten wir auch in unserem Raum einen Dancefloor haben können. Zum Glück verzieht sich dann die feierwütige Meute für gewöhnlich in Clubs in den Untergrund, so dass ich wenigstens etwas Ruhe bekam. Das Frühstück holt mich aber wieder ins Leben zurück. Für mich gibt es Hummus mit leckerem Brot, Kate versucht sich an Fatteh: mit Joghurt-Knobi Soße übergossene, knusprige Brotstücke und Kichererbsen. Oder um es in ihren Worten zu sagen: Knoblauchsuppe. Eine absolute Granate und für die nächsten drei Tage startet ihr Tag mit nichts anderem. Bestens gestärkt, bewältigen wir den gestrigen Heimweg in umgekehrter Richtung, um zur Cola Busstation zu gelangen. Von dort fahren die Minibusse in südliche und östliche Richtung ab. Um 11:00 Uhr sind wir hier mit der dreiköpfigen Reisegruppe um den trommelnden Kreuzfahrer Fabi verabredet. Fast sind wir sogar pünktlich, leider lotst uns Google Maps jedoch zu einem anderen Einstiegspunkt. Im Endeffekt sind wir aber keine halbe Stunde nach vereinbarter Zeit am Treffpunkt und damit für meine Verhältnisse noch fast pünktlich. Den anderen wird es vielleicht auch ganz recht gewesen sein, lernten sie doch nach ihrer Ankunft gestern Abend noch das zweite Ausgehviertel Beiruts – Gemmayzeh – ausführlich kennen. Da ich die Nachricht bezüglich Treffpunkt nachts um 4:36 Uhr erhalten habe, rechnete ich ja schon mit so etwas. Ob der fehlende Schlaf und der Restalkohol auch als Begründung für ihr etwas zu optimistisch gewähltes Outfit herhalten muss? T-Shirt geht ja noch, aber dass keiner auch nur annähernd eine lange Hose trägt, könnte beim angekündigten Temperatursturz schon zu einem kleinen Problem führen. Allerdings hat wohl im Vorfeld Reiseleiter und selbsternannter Planungsnazi Fabi verkünden lassen, dass es heute ganz sicher nicht regnen würde. Und spätestens nach unserer gemeinsamen USA-Tour im Sommer kann ich sagen, dass der Typ perfekt vorbereitet ist und keinerlei Fehlinfos raushaut. Eigentlich.

Unser heutiges Tagesziel heißt Sidon, oder in Landessprache Saida. Fahrten dahin werden an der Cola-Station auch in exorbitantem Maße beworben. „Saida, Saida, Saida“, ertönt es an einer Tour. Wer da keine Lust auf Cider bekommt, dem ist auch nicht mehr zu helfen. So müssen wir auch nicht lange warten, bis alle Plätze des Minibusses belegt sind und wir für 2.000 LBP nach Saida kutschiert werden – leider ohne Cider. Auf dem Weg passieren wir das von außen imposante Nationalstadion (in dem am Freitagabend ein Spiel der ersten Liga stattfand) und weniger gute Bezirke (vor den südlichen Stadtteilen Beiruts wird etwas gewarnt), bevor wir gute 45 Minuten später dem Gefährt wieder entsteigen und die Haupt-und größte Stadt des Südens des Libanon erkunden – im Regen. So viel dazu. So sommerlich die Neuankömmlinge gekleidet sind, so vorbereitet sind Kate und ich. Sogar einen Regenschirm führen wir mit uns, so dass uns die von oben herabfallende Nässe nichts ausmacht, bis wir die überdachten Souqs erreichen. Das Schlendern durch die verwinkelten Gassen mit ihren zahlreichen Geschäften macht Spaß. Scheinbar verirren sich hierher nicht sonderlich viele Touristen, gibt es doch keine bunten Gewürztürme oder ähnliche, aus besser besuchten Souqs bekannte Dinge. Im Gegenteil ist es ziemlich menschenleer, dafür aber auch schön authentisch. Nur das ausgeschilderte Seifenmuseum beglücken wir nicht mit unserer Anwesenheit, auch wenn ich mich im Nachhinein frage, wie es in so einem Seifenmuseum wohl aussieht? Hier haben wir Seife mit Vanilleduft? Hier sehen sie eine seltene kroatische Lavendelseife? Mit dieser Seife in Eselsform hat sich der Zar von Russland die Eier eingerieben? Es hilft alles nichts, ich muss nochmal herkommen. Ansonsten lässt sich sagen, dass es in Saida wesentlich konservativer zugeht als in Beirut. Generell gilt der Süden Libanon ja auch als nicht gerade sicherste Ecke. Vor den Toren Sidons befinden sich zwei große palästinensische Flüchtlingslager, die 70.000 Menschen beherbergen und als Ortsfremder nicht unbedingt betreten werden sollten. Die ganze Region ist absolute Hisbollah-Hochburg, die hier in Zusammenarbeit mit dem Iran mehrere tausend Raketen in Richtung Israel stationiert hat, also ein absolutes Pulverfass hier unten. Die Bevölkerung ist durch die Besatzung Israels während des Bürgerkriegs noch traumatisiert, Israel selbst sieht die Hisbollah als größte Bedrohung an. Erstaunlich, dass es hier in den letzten Jahren relativ ruhig ist. Wenn das Pulverfass aber mal in die Luft fliegt, kann es so ausgehen wie 2006, als ein 33tägiger Krieg zwischen Israel und dem Libanon ausbrach, der 1.500 Menschen, größtenteils Zivilisten, das Leben kostet. Man kann nur hoffen, dass die sicherlich trügerische Ruhe hier noch lange anhält.

In Sidon selbst ist alles safe. Man sollte halt nicht den semilustigen Witz machen, jemandem zu erzählen, man sei Israeli (btw, um noch mal kurz zurück zu kommen: Hier geht es explizit um Israelis, nicht um Juden. Sofern sich Juden von Israel lossagen, können sie theoretisch easy im Libanon leben. Tatsächlich tun das aber nur noch knapp 200). Da wir das nicht machen, begegnet man uns auch hier nur freundlich. In einem Café gegenüber der Hauptmoschee setzen wir dennoch die Tarnmaske auf: Wir bestellen eine Shisha. Und was soll ich sagen? Das Ding schmeckt. Zuhause nervt mich ja dieser Shishatrend mit möchtegernstylishen Pfeifen und pseudoorientalischen Lounges relativ ab, hier gehört es aber zum Lifestyle dazu. Wie Shisha zum Lifestyle, gehört Backgammon zur Shisha. Doppeltes Glück, dass sowohl ein freies Spiel auf den Tischen liegt, als auch, dass einer der Nachkömmlinge tatsächlich die Spielregeln beherrscht. Jetzt kann ich sie auch. Wenn ihr also im nächsten Frühjahr in FFM einen Typen auf einem Plastikhocker Shisha rauchen seht, der einen Backgammonpartner sucht, denkt dran: Es könnte euer Droog und Erzähler sein.

Nach der wohlverdienten Pause steuern wir nacheinander die drei touristischen Highlights Sidons an – wenn man das Seifenmuseum mal außen vor lässt. 1. Die Falafelbude am Hafen. Was ist das nur für ein Wahnsinnsteil? Da vergisst man glatt, dass der Laden neben an mit seiner Spezialität „Delphin mit Pommes“ wirbt.  Zumindest interpretieren wir das so Zweites Highlight: Die Kreuzfahrerburg auf einer vorgelagerten Insel. Auf Bildern sieht diese echt schön aus. In der Realität ist sie dann aber doch relativ heruntergekommen, so dass wir uns die umgerechnet 4,-€ Eintritt sparen und uns auf direktem Weg zum dritten und größten Must-See machen: Dem Saida International Stadion. Es sind tatsächlich gute 5km, die es immer direkt am Meer entlang geht. Wer möchte, kann auch auf dem Rücken eines Ponys reiten. Da laut Kate die vorgeführten Pferde aber so fit aussehen wie Mats Hummels im Pokalfinale, lassen wir das lieber und beobachten lieber die Szenerie. Ein junges Pärchen am Ufer, das – natürlich – auf Plastikstühlen sitzt und – natürlich – an der Nargila saugt, schaut gedankenverloren in die Weiten des Mittelmeeres und sind unser menschlicher Höhepunkt entlang des Weges. Romantik next Level – ohne Übertreibung. Die meiste Zeit aber sind unsere Augen auf das majestätisch am Ende des überraschend sauberen Strandes, direkt am Meer gelegene Stadion gerichtet. Erbaut wurde es für die Asienmeiserschaft im Jahre 2000, die im Libanon stattfand und wo es neben Tripoli (ebenfalls direkt am Meer gelegen) und dem heute schon gesichteten Nationalstadion in Beirut einer von drei Spielorten war. Blickfang des Bauwerks ist sicherlich die Zeltdachkonstruktion der hohen Haupttribüne, ansonsten wird die Laufbahn von einer einrangigen und nicht überdachten Sitzplatztribüne umrundet. Trotzdem – vor allem durch die Lage – schon ein Brett, das Platz für 22.600 Zuschauer bietet. Soviel sollten heute nicht kommen, obwohl mit Al Ansar der zweitbeliebteste Verein des Landes sein „Heimspiel“ austragen sollte.

Al Ansar - Shabab Al Ghazieh 3:0
1.500 Zuschauer, Saida International Stadium
1. Liga Libanon


Auch heute wieder wird die Eintrittskarte, auf der übrigens ein Bild eines Spiels von Real Madrid gedruckt ist, wieder in zwei Hälften zerrissen. Heute habe ich aber kein Problem, zwei zueinander passende Hälften zu finden. Und selbst wenn ich sie nicht gefunden hätte: Ich habe vorher ein Foto geknipst. Als wir das Stadion betreten, hängen schon drei Zaunfahnen und es sind schon einige grün gekleidete Fans von Al Ansar Rostock auf der Gegentribüne anwesend. Zu Spielbeginn werden es vielleicht 1.500 sein, die im Stadion sind und ihrem Team aus Beirut nach Saida gefolgt sind. Warum das Spiel hier stattfindet? Keine Ahnung. Am besten nicht hinterfragen. Bevor ihr euch weitere Gedanken dazu macht, lenke ich euch einfach mit einer wichtigen Info ab: Bei Al Ansar handelt es sich um einen waschechten Weltrekordhalter. Der im Jahre 1926 gegründete Verein konnte seine erste Meisterschaft zwar erst im Jahre 1988 gewinnen, danach wurde aber bis 1999 kein anderer Club mehrlibanesischer Meister. Elf nationale Titel in Folge – das hat weder die Eintracht, noch irgendein anderer Verein bisher geschafft. Zusätzlich gelangen in dieser Zeit auch noch lockere acht Pokalsiege. Bis heute kamen zwar nur noch zwei weitere Meisteschaften hinzu, der Weltrekord hat aber immer noch Bestand.

Bis der Unparteiische den Kick eröffnet, überbrücken wir die Zeit wahlweise mit einer Fotosession auf der Gegentribüne (weiter kommen wir nicht, trotzdem top), Kaffeekauf (ekelhaft) oder Toilettenbesuch (erfolgreich). Bei letzterem entpuppen sich die sanitären Anlagen zwar als erstaunlich gut, können aber dennoch mit einigen Hindernissen aufwarten. Bevor man den Raum betritt, durchwatet man eine knöcheltiefe Pfütze, die man erst sieht, wenn man schon drinnen steht. Die Anlagen für das große Geschäft sind zwar ganz ok, können aber nicht genutzt werden, da einfach mal ein Mülleimer im Klo steckt. Und aus den eigentlich sauberen Pissoirs kommt ein Gestank, der meinem Jahrhundertfurz in Marokko schon recht nahe ist. Trotzdem suchen wir den Sanitärbereich noch mehrfach auf. Die Füße sind eh schon nass. Was man festhalten kann: Mit unseren Tätigkeiten sind wir auf jeden Fall aktiver als die beiden Mannschaften, die sich eigentlich gerade für den bevorstehenden Kick warmmachen sollten. Auf dem Platz sind sie zwar, großartig bewegen tut sich aber keiner. Ok, so werden wir also schon mal auf das uns zu erwartende Niveau vorbereitet. Der Stadionsprecher hingegen bereitet uns und den Rest des Publikums nicht auf das Spiel vor. Es gibt nämlich keinen. Unter der Woche hat der libanesische Fußballverband beschlossen, dass innerhalb des Stadions keinerlei Lautsprecher mehr benutzt werden dürfen. Dies gilt wohl sowohl für offizielle Anlagen der Stadien als auch für stimmverstärkende Geräte der Fans. In letzter Zeit wären wohl Beleidigungen gegnerischer Spieler über das übliche Maß (gegen das man übrigens nichts hat, da es dazu gehören würde) angestiegen, die über Lautsprecheranlagen angestimmt wurden und das Publikum so noch mehr aufgeheizt haben. Durch wen und wie genau dies abgelaufen ist, weiß ich leider nicht. Fakt ist nur, dass so die Begründung für das Verbot lautet.

Die hauptsächlich zu unserer Rechten stehenden Tifosi Al Ansars stören sich nicht daran. Als die Mannschaften einlaufen, werden ein paar unkoordinierte Gesänge zu ebenso unkoordinierten Trommelschlägen ins Oval geblasen, dazu gehen gar einige Rauchdosen an. Eine dieser wirft ein Jungspund nach Ausqualmen in Richtung der auf der Tartanbahn stehenden Miliz, die auch hier die Aufgabe des Ordnungsdienstes übernimmt. Zum Eingriff sieht sich diese jedoch nicht berufen. Ein strenger Blick und ein erhobener Finger reichen, um für den Rest der Partie für Ruhe zu sorgen. Das restliche Publikum zeigt seine Zuneigung zum Team hauptsächlich durch optische Merkmale. Herausragend die Muslimas, die zusätzlich zu ihrem Kopftuch grüne Cheerleader-Puschel benutzen. Andere haben knallgrüne Haare oder die Deutschlandfahne auf dem Unterschenkel tätowiert – herrlich. Letzterer scheint dann auch ein ganz schöner Spaßvogel zu sein, führt er doch mit seinem Sitznachbarn in der zweiten Hälfte einen Wechselgesang durch, der die halbe Tribüne zum Lachen bringt – die meisten wohl wegen der Bedeutung der geäußerten Worte, uns eher wegen der skurrilen Situation. Die lautesten im Stadion sind sie dennoch nicht. Das sind nämlich die ständig ihr Produkt anpreisenden Kaffeeverkäufer. Kaffee im libanesischen Slang heißt wohl „Aaaaauuu Eeeee“. Dass sie jedoch weit entfernt von „ausverkauft“ sind, wundert mich hingegen nicht, nachdem ich einen Schluck des angeblichen Bohnengebräus probiert habe. Besser schmeckt da schon der Halbzeitsnack. Zwei Drittel von Reisegruppe zwei testen diesen aus. Hunger haben sie zwar absolut keinen, übers Essen reden sie trotzdem die ganze Zeit. Begründung dafür, diesmal zuzuschlagen: Ihnen ist kalt, und sie brauchen was Erwärmendes. Die lecker gewürzten Bohnen und Maiskolben mit Zitrone sind im ersten Moment wirklich schmackhaft, nach einer Zeit aber auch widerlich. Was sie hingegen nicht wirklich sind, ist heiß. Also frieren die beiden Leichtbekleideten einfach weiter.

Ihr merkt: Wir haben allerhand Zeit für Beobachtungen abseits des heute natürlichen Rasens. Ich wage zu behaupten, dass es zwischen erster und dritter libanesischer Liga keinen großen Qualitätsunterschied gibt. Was die Akteure da unten abliefern, lässt mich nicht nur einmal an den Schädel greifen. Allen voran der Torwart der Gastmannschaft, deren Fanblock sich wie andere Teile des Stadions auch zur Halbzeit „füllt“ (Stichwort: Freier Eintritt) und in dem die mitgebachte Trommel mit Aufschrift des Vereins Nejmeh nicht einmal benutzt wird, dürfte in seinen Bewegungsabläufen den gestrigen Keeper noch unterbieten. Ihm ist das nicht vorhandene Talent durchaus bewusst, so dass er versucht, dem Drama mehrfach durch vorgetäuschte Verletzungen zu entgehen. Nach jeweils kurzen Behandlungspausen muss er aber immer wieder zurück in den Kasten, aus dem er den Ball insgesamt dreimal rausholen muss. Damit ist er noch gut bedient. Shabab Al Ghazieh steht auf dem 9. Platz der Tabelle. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es drei Teams geben muss, die noch schlechter sind. Wie soll das gehen? Mal ohne Scheiß, ich habe ja mittlerweile auch schon etwas rumgekommen und habe so einige Spiele gesehen, aber das fußballerische Niveau im Libanon ist echt ganz weit unten anzusiedeln.

Das zweite Tor feiern die Jugendlichen unter Al Ansars Anhängerschaft mit einem Zaunsturm, wobei sie nicht einmal die brutale Stacheldrahtrolle am oberen Ende des Gitters stört. Das dritte Tor fällt mit Abpfiff, was nahezu der komplette Teil unserer Gesellschaft nicht mehr sieht. Einigen ist zu kalt, einem weiteren, eigentlich ernsthaften Fußballtouristen, sind zwischendurch die Augen zu gefallen und die weibliche Minderheit ist eh über jede Minute froh, die sie früher gehen kann. Immerhin haben wir auch noch den kompletten Rückweg ins Stadtzentrum vor uns, wo die Minibusse zurück nach Beirut auf uns warten. Relativ schnell erreichen wir die Busstation, gibt das frierende Duo doch ein Tempo vor, dass fast schon Dauerlaufniveau hat. Relativ schnell ist unser Zwölfsitzer auch ausgebucht, relativ schnell erreichen wir auch wieder Beirut. Letzteres aber nur dank unseres Rennfahrers am Steuer. Bis zur Rückfahrt dachte ich noch, dass der als so wild angekündigte Verkehr im Libanon doch gar nicht so schlimm wäre. Jetzt sind die Straßen aber ziemlich verstopft. Sonntagabends fahren sehr viele Leute zurück nach Beirut, die ihr Wochenende in der Heimat verbracht haben und zum Arbeiten in der Stadt wohnen. Das macht sich dann auch auf der Straße bemerkbar. Lediglich unser Kamikazepilot hat damit kein Problem. Der Standstreifen wird ausgenutzt, wo es nur geht. Durch jede sich anbietende Lücke wird überholt. Ich bin auch relativ froh, dass es so schnell geht, untermalt er seine rennfahrerischen Ambitionen nämlich zusätzlich mit dem passenden Soundtrack. Als er die Elektromusik aufdreht, tobt der Mob im hinteren Bereich zunächst noch. Als die als Musik getarnten Störgeräusche daraufhin noch lauter und unmelodischer werden, bereuen wir unseren vorherigen Stimmungsausbruch gleich wieder. Noch schlimmer wird es, als der Fahrer seinen Furz mit einem billigen Deo verdecken möchte. Widerlich. Und wieder reagieren wir wohl zu auffällig, legt er doch noch fies grinsend eine Ladung nach. Once again: Widerlich. Wie es dann allerdings einer unserer Mitstreiter schafft, bei dieser Lärm- und Geruchsbelästigung tatsächlich zu schlafen, muss ich bei Gelegenheit nochmal in Erfahrung bringen.

Zurück in Beirut, geht der bekannte Fußmarsch zurück in unser Hotel, wo sich die anderen ein Uber zurück bestellen und Kate und ich im Anschluss einen lokalen Supermarkt auschecken, um unser Abendbrot zusammenzustellen. Bei lecker Brot und extrem geilem Mutabbal, einem rauchigem Auberginenmus, quasi einem intensiveren Baba Ganoush, machen wir die Planung für den morgigen Tag: Anstatt Byblos, wird jetzt Baalbek angesteuert. Fußball steht hingegen nicht mehr auf dem Speiseplan, weshalb die nur daran interessierten hier aufhören können zu lesen.

Montag, 05.11.
Irgendwie hatten wir das alles schon einmal. Fatteh zum Frühstück, danach Treffpunkt an der Cola Station. Auf dem altbekannten Fußweg durch unsre Hood gibt es aber doch Abweichungen beim täglich grüßenden Murmeltier. Dass Kate und vor allem ich mal wieder unter Zeitdruck stehen, um ein pünktliches Erscheinen sicher zu stellen, ist dabei noch eher in die Kategorie „Altbekanntes“ einzuordnen. Um nicht ganz so spät zu sein, wollen wir auf ein Taxi zurückgreifen. Nachdem wir jetzt schon zwei Tage den Verkehr in Beirut beobachten konnten, halten wir das für die leichteste Übung seit der Abiprüfung im Mathematik Leistungskurs – locker flockige zwölf Punkte aus dem Ärmel geschüttelt. Wir haben die Rechnung jedoch nicht mit dem Berufsverkehr gemacht. Dachen wir die letzten beiden Tage noch, dass die Straßen ja gar nicht so krass ausgelastet sind wie überall beschrieben, ändert sich das an einem Montagmorgen doch sehr. So dauert es einige Zeit, bis wir von einem Droschkenkutscher angehupt werden. Als wir hinten einsteigen wollen, ist dort schon besetzt. Die beiden kopfbetuchten Frauen waren auch wahrlich von außen nicht zu erkennen. Sitze ich halt vorne, auch kein Problem. Ein solches ist es dann schon eher, dass die beiden ersten Insassen natürlich auch als erstes an Ihr Wunschziel befördert werden. Ihr werdet es erahnen: In unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Hotel. Hauptsache, wir sind schon gute 20 Minuten in die andere Richtung unterwegs gewesen. Da in allem Blöden jedoch auch immer etwas Gutes steckt, entdecken wir auf dem notgedrungenen Umweg endlich Street Art Bilder von Yazan Halwani, der als Banksy Beiruts und mittlerweile weit über die Grenzen des Libanon bekannt ist. Ebenso beeindruckend wie die Kunst ist der Preis für unsere Ausfahrt – 1.000 LBP pro Person. Neben offiziellen Taxis sind sogenannte Service ein Hauptverkehrsmittel des ÖPNV. Einen solchen haben wir erwischt. Deren Ziel besteht darin, so viele Leute wie möglich am Straßenrand einzusammeln und an deren Wunschdestination zu fahren, was innerhalb des weitgefassten Zentrums wohl 1.000 LBP kostet. Von außen sind sie für das ungeübte Auge jedoch nicht von normalen Taxis zu unterscheiden. Ob des aufgerufenen Preises muss ich mich zweimal vergewissern, dass wir auch tatsächlich die gleiche Sprache sprechen, was wir natürlich nicht tun. Er redet Französisch (der Libanon war von1920-43 französisches Mandatsgebiet. Auch heute sprechen oder verstehen noch 40% der Bevölkerung diese seltsame Sprache), ich eine weit davon entfernte Version dieser Sprache. Die Sprache des Geldes ist aber linguistisch unabhängig, so dass der aufgerufene Betrag tatsächlich stimmt.

Am Cola werden wir schon erwartet. Anstatt Schimpfe gibt es jedoch ein Lob, da unsere lediglich siebenminütige Verspätung als „quasi pünktlich“ ausgelegt wird. Nach einem Falafelfrühstück der beiden Nimmersatten sitzen wir wieder in der Matruschka und warten auf weitere Mitfahrer nach Baalbek (7.000 LBP kostet die Fahrt).

Es heißt so schön: Du kannst den Libanon nicht verlassen, ohne Baalbek gesehen zu haben. Liest man sich etwas die Reisehinweise des Auswärtigen Amtes – oder noch viel krasser seiner Pendants aus Österreich und der Schweiz – sowie die spärlichen auf der ersten Seite der Google Suche erscheinenden Seiten durch, könnte man eher meinen, es heißt: Du wirst den Libanon nicht verlassen, wenn du Baalbek besuchst. Allerhöchstens in Richtung Syrien als zukünftiger Inhalt eines Propagandafilms des IS. Tatsächlich gab es hier in nicht allzuferner Vergangenheit den ein oder anderen Anschlag, auch gegen Touristen. Der schiitischen Hisbollah, die den sunnitischen IS als einen Hauptfeind deklariert hat, gefiel das hingegen nicht ganz so gut, so dass sie den IS wieder zurückgedrängt haben. Immerhin ist das hier nicht nur absolutes Hisbollah Terrain, sondern sie wurde sogar hier im Jahre 1982 (der Name Hisbollah [sinngemäß „Die Partei Gottes“]) besteht aber erst seit 1985) als ein Zusammenschluss verschiedener Milizen als Reaktion auf den Einmarsch Israels in den Süb-Libanon und den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila gegründet. Letzteres soll jetzt kein Namedropping sein oder irgendwelches Pseudowissen vorgaukeln, ich erwähne das lediglich, um eine Überleitung zum Film, „Waltz with Bashir“ herzustellen, der genau dies zum Thema hat und dessen Ende mich schockiert minutenlang auf den schwarzen Bildschirm hat schauen lassen. Wer an der Thematik interessiert ist und sich nicht von unkonventioneller Inszenierung abschrecken lässt, dem empfehle ich reinzuschauen, solange noch nicht geschehen. Und damit auch genug zu dieser Thematik. Wer mehr wissen will: Die altbekannte Suchmaschinerie liefert hierzu fundiertere Ergebnisse.
Auf dem Weg nach Baalbek schrauben wir uns nicht nur ganz schön in die Höhe, da direkt hinter Beirut das Libanongebirge beginnt, in dem es sogar Skigebiete gibt, und passieren diverse Checkpoints des Militärs, bei denen wir aber nur freundlich durchgewunken werden, wir lernen sogar etwas.  Als der Botaniker aus Reisegruppe Zwei  gestern direkt nach der Begrüßung fragte, wieso der Libanon einen Baum auf der Fahne hat, war noch Stirnrunzeln angesagt. Da er seine Berufung aber durchaus ernst nimmt, kann er uns heute die Antwort liefern, die ich euch natürlich nicht vorenthalten will, auch wenn sie hauptsächlich aus Wikipedia-Wissen besteht: Bei dem Baum handelt es sich natürlich um eine Zeder, dem Wahrzeischen des Libanons. Die Zeder wächst wild nur in wenigen kleinen Gebieten der Welt, wobei die Unterart der Libanon-Zeder, man wird es erahnen können, nur in Teilen von eben diesem vorkommt, und zwar nur in Höhen von 600-2.000 Metern. Die Zeder symbolisiert Frieden, Helligkeit und Ewigkeit und muss in der offiziellen Darstellung der Flagge sowohl den oberen, als auch den unteren roten Balken berühren, was er meist jedoch nicht tut. Ein Affront!

So, wieder was gelernt, geht hier aber auch Schlag auf Schlag, langsam wird das hier zu einer Enzyklopädie. Wie wir im weiteren Verlauf des Tages lernen, wächst hier aber nicht nur die Zeder, sondern auch wilder Basilikum. Das erklärt uns nämlich der Naturbursche ganz stolz, als er ihn auf dem Gehweg wachsen sieht. Und nicht nur das: Alles, was irgendwie grün ist und auf dem Boden (oder in einer Hecke, oder an der Wand, oder egal wo) sprießt, wird gepflückt und analysiert, wenn nicht zwischendurch mit einem Baum gekuschelt wird. Und ich dachte ursprünglich mal, ich kenne verrückte Leute. Ein bisschen zweifeln wir aber schon an der Kompetenz, als Hagebutten voller Überzeugung als irgendwelche Beeren deklariert werden. Die wertvollste botanische Info ist jedoch, dass die Bekaa-Ebene, in der wir uns mittlerweile befinden, das Zentrum des Cannabis Anbaus der Region ist und von hier aus der rote Libanese seinen Siegeszug durch die Welt gestartet hat – endlich mal wirklich wertvolles Wissen.

Als wir schließlich in Baalbek in ankommen, bereitet uns unser Reiseführer Fabi mit Hilfe seines schon zig-mal gelesenen Reiseführers – dem Libanon-Bericht von Marc im vorletzten Daggl – auf den Besuch der größten bekannten Tempelanlage des antiken Roms vor. $15 Eintritt soll es kosten und ziemlich beeindruckend sein. Na das sind doch mal top Infos. Danke. $15 Eintritt kostet es dann auch (für Studenten sogar nur 10), beeindruckend ist hingegen untertrieben. Wir haben es hier schon mit einer absoluten Bombe zu tun, da kann es keine zwei Meinungen geben. Lediglich zwei Probleme stellen uns vor größere Hürden: 1. Das Suchen des Eingangs. Im Endeffekt bleibt die Frage, wer eigentlich blöder ist? Der Dummtouri, der völlig blind in die falsche Richtung läuft? Oder die sich überlegen fühlende Reisegesellschaft, die in grenzenloser Naivität diesen mit etwas Sicherheitsabstand hinterhertrottet. Eine Antwort auf diese Frage erwarte ich übrigens nicht. Problem zwei: Die blaue Mülltonne. Dank der wirklich schlimmen Reisewarnungen ist hier relativ wenig los. Man kann den berühmten Bacchus-Tempel tatsächlich ohne menschliches Beiwerk ablichten. Nur eine blaue Mülltonne stört das Gesamtbild – sieht man mal davon ab, dass ein als Reiseführer getarnter Herr in Jogginghose und mit Doritos-Packung am Schlund ständig in die Linse läuft. Aber auch das lässt sich beheben, sorgen wir doch für optische Verschönerung und tragen die Tonne aus dem Blickfeld. Erschossen werden wir dafür übrigens nicht, obwohl von irgendwoher in einiger Entfernung ständig Schussgeräusche zu hören sind. Die Herkunft können wir nicht abschließend klären. In Kombination mit den Reisehinweisen aber doch relativ scary. Da sich aber niemand dran stört, tun wir das auch nicht. Auch sonst ist das hier mittlerweile alles total sicher. Sowohl Einheimische, als auch die spärlichen Reiseberichte im WWW der letzten Zeit bezeugen, dass aktuell keine Gefahr besteht. Also, wenn ihr in der Nähe seid: Kommt her. Es lohnt sich. Und wer will, kann sich bei den Souvenirhändlern sogar mit offiziellem Hisbollah Merchandise eindecken.

Neben dem Tempel und einer leckeren Falafel hat Baalbek noch ein weiteres Highlight zu bieten: Den Stein der schwangeren Frau aka Stein des Südens (und jetzt alle singen: …Stein des Südens, du wirst niemals untergehen…). Dabei handelt es sich um den größten monolithischen Baustein der Welt - zumindest war er das, bis ein paar Meter weiter zwei noch größere entdeckt wurden. Naja, im Prinzip ist es halt ein großer Steinklotz. Wieso der da jetzt so in der Gegend rumliegt, lässt uns verschiedene Theorien aufstellen, wobei mir die plausibelste ist, dass es sich dabei um so etwas wie dem schwarzen Monolithen aus 2001handelt. Im Endeffekt denke ich aber eher, dass er einfach zu schwer war, um jemals auf die vorgesehene Baustelle bewegt zu werden.
Vor dem Rückweg nach Beirut wird es dann doch etwas gruselig. Wir sitzen in der Zwischenzeit schon wieder im Minibus, in dem wilde Verhandlungen über uns stattfinden. Als wir die Fragen nach unserer Herkunft und unseren arabischen Sprachkenntnissen wahrheitsgemäß beantworten (wobei wir verschweigen, dass Kate am Abend zuvor ein Arabisch für Anfänger Video auf Youtube geschaut hat), beginnen minutenlange Diskussionen. Wir malen uns aus, dass gerade der Preis für uns ausgemacht wird und ob Amerikaner vielleicht mehr wert wären. Mit dem Leben bereits abgeschlossen, fahren wir dann tatsächlich irgendwann los und erreichen zwei Stunden später wieder Beirut.  Die Fahrt verbringe ich lesend, während der Rest im Traumland weil - außer dem eigentlich smartphoneverweigernden Trommler. Immer, wenn ich mal den Kopf hochrecke, sehe ich ihn, wie er auf einem normalerweise von ihm verweigerten Gerät Backgammon spielt. Später erzählt er gar davon, dass er selbst auf dem folgenden Flug nach Zypern dieser Tätigkeit nachging. Ob er jetzt vielleicht doch mal schwach wird? Schließlich gilt es ja auch, seine niederschmetternde Bilanz des Tages zu verbessern: Fünf Spiele, fünf Niederlagen.

Der wilde Höhepunkt des Tages steht uns aber noch in der Hauptstadt bevor. An einer Kreuzung wechseln wir den Minibus und besteigen einen neuen in Richtung Hamra. So weit, so gut, doch zu unserer großen Unterhaltung erwischen wir den ambitioniertesten Rennfahrer des gesamten Nahen Ostens. Sobald drei Meter Platz auf der Straße sind, wird Vollgas gegeben, um 0,2 Sekunden später wieder extremst abzubremsen. Von Überholmanövern oder Missachtung der offensichtlichsten Verkehrsregeln fange ich erst gar nicht an. Dass er durchgängig auf dem Handy schreibt, Fahrtgeld wechselt und mit seinem Nebenmann redet und diesen natürlich auch dabei anschaut, lässt uns auch nur kurz den Kopf schütteln. Als er aber aus seinem Gefährt eine mobile Disco samt lautester Musik und penetrant-grellem blauen Licht macht, ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Absoluter Top-Lad, der auch ein guter Matatu Fahrer in Kenia geworden wäre. Zum Glück sind wir mittlerweile in Hamra angekommen, wo der Abend bei diversen Biers, Shisha und geilem Meze ausklingt. Dass man sich dabei von einem Assi in Jogginghose und Sixer unterm Arm als ebensolcher Assi beschimpfen lassen muss, nur weil man ein Eis isst, hinterfrage ich im ersten Moment zwar noch, im Endeffekt hat er aber Recht. Am Ende zolle ich dem verpassten Schlaf auf der Rückfahrt aber Tribut und bin doch ganz froh, als sich die illustre Runde auflöst, habe ich doch arge Probleme, die Augen offen zu halten. Weidmanns Heil!

Dienstag, 06.11.
Unseren letzten Tag im Libanon verbringen Kate und ich wieder in trauter Zweisamkeit. Wir laufen die Corniche in die andere Richtung und stiefeln durch Downtown Beirut. Durch diesen Teil verlief die Green Line, die den muslimischen West- vom christlichen Ostteil teilte und während des Krieges so etwas wie die Frontlinie war. Heute ist hier alles topmodern. Nach dem Krieg wurde alles neu gebaut. Gelockt haben uns u.a. die laut Stadtplan hier befindlichen Souqs. Dabei handelt es sich aber nicht, wie man meinen könnte, um einen orientalischen Basar, sondern um eine stinknormale Mall, die einfach nur in architektonischer Tradition eines Souqs errichtet wurde. Da die Einheimischen diese jedoch nicht annehmen, sind kaum Menschen anwesend, so dass der ungeplante Bummel ziemlich trostlos ist. Im Äußeren befinden sich Luxus Boutiquen und Cafes, in denen die Quote der schönheitsoperierten Frauen die 100% übersteigen dürfte. Andere Welt hier. Am Märtyrerplatz in naher Umgebung stehen die Hauptmoschee und die Kathedrale der maronitischen Kirche direkt nebeneinander, was auch nochmals die Gleichstellung der Religionen symbolisiert. Eines der bekanntesten Bilder Beiruts dürften aber die Hotels am Hafen sein. Das legendäre Phoenicia im Vordergrund, dahinter die Ruine des Holiday Inn. Unübersehbar prallen hier die Kontraste aufeinander. In diesem Falle: Luxus auf der einen Seite, Kriegsnachwirkungen auf der anderen. Während der Kämpfe wurde das Holiday wegen seiner Höhe als beleibter Standort für Scharfschützen genutzt, weshalb es aber auch oft unter Beschuss war. Heute steht es als Mahnmal im Zentrum der Stadt – auch wenn der eigentlich Grund ist, dass sich die Eigentümer nicht einigen können, was damit geschehen soll. Nachdem wir Downtown wieder in Richtung Hamra verlassen, passieren wir einige Straßenzüge, die wohl beim Wiederaufbauplan außen vor gelassen wurden. Zerschossene Fassaden und teilweise eingestürzte Häuser lassen uns ganz schön schlucken und die Schrecken des Krieges zumindest erahnen. In einer privaten Bäckerei kaufen wir uns beim Besitzer, der sichtlich erfreut darüber ist, uns bedienen zu dürfen, mehrere gefüllte Teigtaschen für fast kein Geld. Unsere  restlichen Devisen fließen ebenfalls in übertriebene Nahrungsaufnahme (Kuchen und Schawarma – in dieser Reihenfolge) und einem Taxi zum Flughafen, dessen Fahrer uns mitteilt, dass es in Deutschland zu viele Syrer gibt und der beim Überholvorgang fast mit einem entgegenkommenden Auto zusammenstößt, was laut Aussage unseres Fahrers aber auf jeden Fall die Schuld des anderen war. Naja, Ansichtssache würde ich sagen. Die Ausreise gestaltet sich dann genauso einfach wie die Einreise und nach Kippenkauf (Stange Gauloises für 9,-€) und unserem kürzesten Flug in einem großräumigen Flugzeug ever (30 Minuten) erreichen wir Larnaca um 20:30 Uhr. Wir sind uns alle einig: Der Libanon kann Einiges. Definitiv ein Top La(n)d. Und damit schließe ich den Bericht, auch wenn auf meinem tatsächlich vorhandenen Notizzettel noch diverse Eintragungen vorhanden sind. Ich denke aber, es reicht Jetzt gilt erstmal volle Konzentration auf Europapokal. Und Strand. Und Bier. Und Katzen. Kleine Katzen. Kuschelige Katzen.


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