>

Italien im November 2014 - Erfahrungsbericht (XXXL)

#
Jetzt in aller Ruhe gelesen und Bildscher geguckt.

Danke. Herrlich!

Und Venedig geht immer. Gibt da absolut hervorragende Bars, Kneipen und Trattorie.
Über die Schönheit der Stadt muss man ja nun wirklich keine Worte verlieren.
#
Da Traditionen gewahrt werden müssen und sich der Monat langsam gen Ende neigt, hier mal wieder ein Bericht aus Italien im November (auch wenn ich nicht weiß, ob hier das noch jemand liest).
2017er Edition: Derby della Puglia

FC Bari – US Foggia 1:0
geschätzte 30.000 Zuschauer (1.290 Gäste)
Serie B, So. 26.11.17

Petting:
Die internationalen Derbyfestspiele machen an diesem Wochenende auch vor Italien nicht halt. Im Gegenteil: Landauf, landab kommt es zu prestigeträchtigen Duellen. Über allem thront sicherlich der Superclasico in der Toskana, aber auch in der Emilia-Romagna, Umbrien und Apulien treffen alte Rivalen aufeinander. Während halb Athmo-Hopper-Deutschland sicherlich nicht nur ein graues Haar wegen der Posse rund um Pisa–Livorno verloren haben dürfte, umging unsere Reisegruppe dieses Problem direkt, in dem wir das lang erwartete Derby della Puglia zwischen Bari und Foggia auf die Agenda setzten.  Die eigene Erwartungshaltung war irgendwo zwischen riesengroß und Böses ahnend. Nach der de facto Abschaffung der Tessera (oder wie auch immer…)zu Saisonbeginn fährt Foggia alles in Grund und Boden. Utopische Auftritte am anderen Ende des Stiefelschafts, zuletzt mit jeweils über 4.000 Wahnsinnigen in Cesena und Ascoli. In italienlogischer Konsequenz konnte das für heute nur eines bedeuten: Trasferte vietate. Gästeverbot. Die Nachricht schlug mir letzten Freitag derber auf den Magen als eine mit Salmonellen angereicherte Mayonnaise im IKEA Restaurant. Eh schon abgefuckt von der kurzfristigen Verschiebung des kalabrischen Derbys zwischen Catanzaro und Cosenza sowie des Hick-Hacks um die Nicht- oder Dochöffnung des Gästeblocks bei Cavese-Taranto, ließ ich mich zur Kurzschlußreaktion hinreißen, dass mich Italien in nächster Zeit mal gepflegt am ***** lecken kann. Das ausgewählte Methadonprogramm in Kampanien zeigte jedoch Wirkung und ich überdachte die Aussage recht schnell wieder. Derweil meldeten sich immer mehr Personen zu Wort, die sich gegen das Gästeverbot für Foggia aussprachen. Nachdem Baris Trainer Fabio Grosso – der Ein oder Andere dürfte diesen Namen schon einmal im Zusammenhang mit einem deutschen WM-Ausscheiden gehört haben – einen flammenden Appell für die Öffnung des Gästesektors an die Öffentlichkeit richtete, hatte ich zum ersten Mal Hoffnung, dass sich doch noch etwas tun sollte. Am Mittwoch kam es dann tatsächlich zu einem Treffen zwischen Beiden Vereinen und der Questura, an dessen Ende Foggia 1.290 Karten erhalten sollte – allerdings nur mit Tessera. Hörte sich für mich nach einem faulen Kompromiss an, der wohl eh mit Boykott geendet hätte, doch wenige Stunden später wurde der Tessera-Zusatz gestrichen. Jetzt sind 1.290 Karten ja nicht die Masse, aber besser als nichts. Harren wir also mal der Dinge, die noch kommen sollten. Bis zum Spieltag kam aber tatsächlich nichts mehr außer stimmungsvoller Besuche beider Seiten beim jeweiligen Abschlusstraining, so dass davon ausgegangen werden konnte, dass die Kartenvergabepraxis wohl oder über akzeptiert wurde. So viel zum viel zu langen Vorspiel, das aber für das Verständnis des Berichtes oder eher für meine Traumabewältigung nicht ganz unwichtig ist.

Hauptakt:
Gegen 9:00 verlassen wir unser Basecamp in Lecce und treten die Reise zum UFO-Landeplatz vor der Hauptstadt Apuliens an. Anstoßzeit des Derbys: Sonntag, 12:30 Uhr. Möchte mal wissen, wem da die Pasta nicht bekommen ist, um auf eine solche Idee zu kommen. Als hätte man nichts anderes zu tun. Eigentlich wollte ich um diese Zeit ja eine der zahlreichen kleineren und unbekannteren Szenen auf dem Pfennigabsatz des italienischen Stiefels wegscheppern, aber da machte mir irgend so ein semilustiger Spieltagsgestalter mit einem fetten, schwarzen Pilot Marker einen Strich durch die Rechnung. Ede sagt immer, dass er an mir neben meinen Prinzipien mag, dass ich immer positiv eingestellt bin. Liebevoll ausgedrückt könnte man sagen, dass ich versuche, in allem das Gute zu sehen. Realistisch betrachtet rede ich mir einfach auch die allergrößte Scheiße schön. Ergo: Wenigstens wird es bei einem Spielbeginn zur besten Sonntagsbratenzeit nicht kalt.  12:30 Uhr heißt auch, dass auf dem Weg nicht allzu viel schief gehen sollte, will man halbwegs pünktlich erscheinen. Als mir 45 Minuten nach Abfahrt Verkehrsschilder wieder den Weg nach Lecce weisen und wir eine vor geraumer Zeit bereits passierte Unfallstellstelle erneut umkurven, stellen wir fest, dass die Tangenziale um die Barockstadt im Kreis führt. Guten Morgen. Auf der zweiten Runde finden wir die richtige Abfahrt, ab nun heißt es für mich und unseren ultimativ hässlichen Toyota AYGO nur noch Vollgas – mehr als 135 Kilometer in der Stunden könnten wir so aber selbst bei optimalsten Rahmenbedingungen nicht zurücklegen. Die Umwelt dankt es. Bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 110 hole ich so trotzdem wertvolle Minuten heraus, die wir im Anfahrtsstau auf das Raumschiff des Nikolauses jedoch schneller wieder einbüßen als der BVB eine Vier-Tore-Führung gegen Schalke. Der Süditaliener mag dieses Gewusel aus Autos, Menschen, Vespas und Borghettiverkäufern ja gewohnt sein, für das kühle Temperament eines Mittelhessen ist das alles zu viel. Also einfach irgendwo auf einer schmalen Straße entgegen der Fahrtrichtung geparkt und raus – wie wir hier später weg kommen, sehen wir dann. Merke: Erst handeln, dann denken. Mit diesem Motto bin ich noch nie auf die Schnauze gefallen.

Kurzer Blick zur Uhr: Halbe Stunde bis zum Anpfiff. Weit hinter Zeitplan, aber theoretisch noch machbar. Am Wort „theoretisch“ wird der aufmerksame Leser bereits erkennen, dass es in der Praxis nicht so einfach werden soll. Warum sollte man auch mehr als zwei Eingänge öffnen? In Reih und Glied stehen die Wartenden hier in einer Schlange, die fast bis nach Foggia reicht, und lassen sich von den Angeboten der mobilen Kaffeelikörverkäufer berieseln. Hätte ich nicht wie immer den Part am Steuer, ich hätte die Offerte von vier zum Preis von fünf (also Euro) sicherlich nicht nur einmal angenommen. So geht es eben nüchtern und erstaunlich zügig bis zum Drehkreuz. Die Zeitersparnis dürfte daher rühren, da dem kontrollierenden Personal aufgefallen ist, dass so ein Namensabgleich zwischen Ticket und Ausweis unheimlich viel Zeit in Anspruch nimmt, weswegen irgendwann darauf verzichtet wurde. Ab jetzt nur noch easy going: Barcode in den Scanner, Drehkreuz durchschreiten, Beine in die Hand, und pünktlich zur epischen Hymne „Bari Grande Amore“ sitzen wir auf unseren Knackärschen. Funktioniert heute halt nur bis zum Punkt „Barcode in den Scanner“. Letzterer liest ersteren nicht, womit sich die gusseiserne Tür nicht in die gewünschte Richtung drehen lässt. Während aus dem Stadioninneren die ersten Klänge der Hymne erscheinen, tröste ich mich damit, dass Foggia auch nicht komplett im Stadion ist. 50 Meter neben uns werden die bekannten Fahnen der Curva Nord geschwungen, im Gegensatz zu uns allerdings schon hinter dem entscheidenden Tor. Mehrmalige Versuche bringen keine Verbesserung der Situation. Utopische Böller kündigen das große Finale der Hymne an. Die Tifosi in der Reihe hinter uns werden langsam ungehalten. Eigentlich sollte ich vor Scham im Boden versinken. Das Gefühl der Scham stellt sich jedoch nicht ein, zu sehr überwiegt die Verzweiflung. Unsere Rettung sind die erstaunlich entspannten Jungs direkt hinter uns. Unter den zugedrückten Augen des Oberordners dürfen wir mit ihnen gemeinsam das Drehkreuz passieren. Mille Grazie und Print@home-Tickets merda!

Jetzt hält mich nichts mehr. Es sind nur noch drei Minuten bis Kick-Off, also sprinte ich direkt in den ersten Block und bekomme den Mund vom Staunen nicht mehr zu. Was für eine Choreo, die sich da über die komplette Nord erstreckt. Auf Folienbahnen über den Unterrang sind die wichtigsten Bauwerke der Stadt gemalt, im Oberrang aus Pappen das Castello (?) dargestellt. Ein bombastisches Bild, das auch über mehrere Minuten gehalten wird. Spätestens jetzt ist die ganze Anspannung und der Frust um das stressige Einlassprozedere verflogen. Tiefenentspannt nehmen wir kurz darauf gefühlt die letzten freien Sitzschalen im Oberrang der Gegengeraden ein. Seit meinem letzten Besuch hier sind auch schon wieder fast genau drei Jahre vergangen. Verändert hat sich seitdem nichts, sieht man mal davon ab, dass einige Teile der Dachkonstruktion mittlerweile wohl weder vor Regen noch vor Sonne schützen. Ob hier in der Zwischenzeit mal ein Reinigungsdienst vorbeigeschaut hat, lässt sich auch nur vermuten, jedenfalls habe ich das Gefühl, dass sowohl der Staub auf den Sitzen als auch die in der Halbzeitpause unfreiwillig inspizierte, eingetrocknete Kacke auf dem Klo schon damals so vorhanden war. Irgendwie ja hochgradig sympathisch, irgendwie aber auch wirklich schade, dass solch ein einmaliges Stadion so verkommt. Da ist ja die Körperhygiene eines Reisepartners des letzten Wochenendes professioneller als die Instandhaltung des Stadio San Nicola – und der hätte laut glaubwürdigen Aussagen eine Woche lang nicht die Zähne geputzt („Zahnbürste ist nur unnützer Ballast“).

Wie heißt es so klassisch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Übersetzt ins Hier und Jetzt heißt das, dass wir uns in unmittelbarer Nähe der Foggiani platzieren müssen. Ein schöner Blick auf den settore ospiti bleibt uns so verwehrt, dafür gibt es umso mehr auf die Ohren. Meine Fresse, machen die einen Deebes (oberhessisch für: Lärm/Radau). Zum Intro werden im oberen Teil mit kleinen roten, im unteren mit schwarzen Plastikfähnchen gewedelt, danach die Flächen der geschwenkten Stoffe vergrößert und jede Menge Großfahnen durchgängig durch die Luft bewegt. Angetrieben von einem Einpeitscher und einer leider etwas zu leisen Trommel, ist das schon ganz großer Spocht. Soweit man das erkennen kann, handelt es sich bei den 1.290 Gästen auch annähernd komplett um Szeneleute. Bis in die letzten Reihen tragen die Tifosi T-Shirts der Curva Nord oder der jeweiligen Gruppen aus Norden und Süden. Überraschend auch, dass für Italien relativ junge Durchshmittsalter. Da scheint es in Foggia doch auch genügend Nachwuchs zu geben. Allerdings gebe ich zu, dass ich das nicht wirklich gut erkennen kann, wird mir beim Blick nach links doch schnell schwummerig. Das liegt jedoch weder an meiner Höhenangst, noch an der SS-Totenkopf-Fahne des alten Regimes, sondern schlicht und einfach an der aus dieser Richtung unbarmherzig strahlenden Sonne. Gut,jetzt wäre es eine zu einfache Überleitung zu sagen, dass ich mehr schwitze als die Akteure auf dem Rasen. Aber unerwarteterweise muss ich konsternieren, dass das gelogen wäre. Die geben sich wirklich allerhand Mühe. Da wird um jeden Ball gekämpft und gegrätscht, Chancen gibt es auf beiden Seiten zu Genüge und der Sportskamerad an der Pfeife kommt mit dem Zücken gelber Karten gar nicht mehr nach. Würde sich doch nur ein Spieler erbarmen und das Spielgerät mal in die Maschen dreschen, es wäre nicht auszumalen, was hier los wäre. So krankt das Spiel aber unter dem Problem, an dem so viele Fußballveranstaltungen in Italien leiden: Es will kein Tor fallen. In der sowohl reellen als auch sprichwörtlichen Hitze der ersten Halbzeit ist das dem Heimpublikum noch egal. Da schlackern dir die Ohren, was teilweise für eine Lautstärke erzielt wird. Wenn sich annähernd die komplette Curva Nord und Teile der restlichen Baresi einklatschen, hören wir den Gästeblock selbst trotz Nähe zu ihm nicht mehr. In den ersten 45 Minuten ist das schon bärenstark. Über Akustik müssen wir nicht reden, optisch ebenfalls nicht, obwohl heute anstatt der Reviermarkierungen von Bulldog, Seguaci und Re David nur das Spruchband „Bari Capoluogo di Regione“ (bedarf keiner weiteren Übersetzung) hängt. Leider wirkt die Balustrade so etwas leer, dem Anlass des Tages ist es aber angemessen. 20 lange Jahre, solange ist es her, dass das letzte Derby zwischen Bari und Foggia ausgetragen wurde (sieht man von einem Coppa Spiel 2015 ab). 20 Jahre – so lange, dass ich dieses Spiel gar nicht mehr auf der Rechnung hatte und Bari immer nur in Verbindung mit Lecce als großen Hassfeind brachte (immerhin auch sechs Jahre nicht gespsielt. Pro Aufstieg Lecce!).

Leider ändert sich die Szenerie im zweiten Durchgang etwas. Während ich weiterhin genüsslich abwechselnd die süßen Düfte von ganz ungezwungen gezündeten Rauchdosen und verbrannten Harzen der Cannabispflanze einatme und mich nicht entscheiden kann, was mir besser gefällt, geben sich sowohl Spieler als auch Zuschauer mehr und mehr mit dem torlosen Remis ab. Passend dazu ist der gleichsam lebensspendende und -zerstörende Himmelskörper von Wolken verdeckt, was zur trostlosen Szenerie passt. Ich übertreibe. Das ist Meckern auf ganz hohem Niveau. Foggia weiterhin bärenstark in der Kurve, auch Bari setzt noch Glanzlichter, hält diese aber nicht mehr so lange wie noch vor Seitenwechsel. Beim „Chi non salta“ springt dann jedoch wieder das ganze Stadion und pöbelt in dieser unnachahmlichen Art und Weise in Richtung Foggia, dass es eine wahre Pracht ist. Und was machen die? Drehen den Spieß einfach um und schreien dabei lauter als 30.000 Baresi kurz zuvor. Ja, der sich anbahnende Punktgewinn wäre tatsächlich ein Gewinn, weshalb nochmals alle Register gezogen werden. Schalparade, Klatscheinlagen, intensive Melodien, viel Gepöbel. Als gegenüber Baris Curva Nord selbst bei einem Freistoß aus 22 Metern mehr oder weniger gelangweilt Dale Bari tanzt, ist klar, dass nichts mehr passiert. Der Ampelkarton für Gästespieler Coletti zehn Minuten vor Ultimo lässt das Publikum nochmals ausrasten, die numerische Überlegenheit kann die Heimelf aber nicht entscheidend ausspielen. So feiern weiterhin die ungeliebten, aber willkommenen Gäste, während ich zwar sehr zufrieden bin, aber auch etwas traurig, da so viel mehr Potenzial dagewesen wäre.  

Doggystyle:
Für Italien lächerlich wenige vier Minuten Nachspielzeit zeigt der vierte Offizielle an. Zweimal hat der Zeiger schon seine Runde gedreht, da kommt eine scharfe Hereingabe in den Strafraum der Gäste. Es ist nur ein kurzer Moment, während dem der rechte Fuß Cristian Galanos den Ball berührt. Er reicht aber aus, um eine ganze Mannschaft, ein ganzes Stadion, eine ganze Stadt in Ekstase zu versetzen. Diese freigesetzte Urgewalt beim Torjubel – wären die Dinosaurier nicht schon ausgestorben, spätestens das wäre deren Ende gewesen. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Die Mannschaft, die mitsamt allen Auswechselspielern, Betreuern, Platzwarten und was weiß ich was alles vor der Kurve feiert? Die Fans direkt dahinter, die in Dreierreihen auf dem Zaun hängen und wie durch ein Wunder nicht nach vorne über fallen? Die Kurve selbst, die komplett am Austicken ist? Der in Schockstarre verfallene Gästeblock, der zunächst zu keiner Reaktion fähig ist? Ich entscheide mich für mein direktes Umfeld. Da sind die kleinen Jungs. Ein zweistelliges Alter dürften sie noch nicht lange haben, trotzdem stehen sie auf den Wellenbrechern und machen diese einmaligen Armbewegungen in Richtung Foggiani. Da ist der Nikolaus höchstpersönlich. Lange graue Haare, rote „Ultras Bari 1976“ Jacke, wahrscheinlich aus eben diesem Jahr, rote Hose, rote Schuhe, roter Schal am Handgelenk, rote Fahne. Die ganze Zeit wirkte er, als müsste er einer Coldplay Platte lauschen, auf einmal führt er sich auf wie ein Duracell-Häschen auf Koks. Die restlichen Zuschauer stehen diesen Beispielen in nichts nach, jeder will der Größte beim Pöbeln sein. Beim anschließenden „Chi non salta“ dürften selbst die Seismographen am Vesuv noch ausgeschlagen haben. Momente für die Ewigkeit. Diese Momente, diese Personen, diese Beobachtungen – das (und viel mehr) ist es, was für mich das Faszinierende an diesem bescheuerten Hobby ist. Es ist so viel mehr als Spiel, Stadion und Stimmung. Ich schweife ab. Während ich mich also noch frage, ob es jetzt besser wäre, die Tore fallen vorher und halten die Stimmung konstant hoch oder ob so eine krasse Explosion das Nonplusultra ist, explodiert noch etwas ganz Anderes. Aus der Südkurve kamen wohl ein paar übermütige Baresi bedenklich nahe an den Gästeblock, der diese Provokation mit Papierbomben erwidert. Leider erwischt es dabei auch einen Ordner, der von mehreren Personen gestützt aus dem Stadion getragen werden muss und nach aktueller Info noch im Krankenhaus liegt. Als ein weiterer Sprengsatz wenige Meter neben uns einschlägt, wird unser Block geräumt und wir nach draußen gebeten. Von dort hören wir nur noch jubelnde Einheimische. Mit dem heutigen Sieg ist Bari Tabellenführer der Serie B. Auch wenn das bei der punktemäßigen Enge der Liga nichts zu sagen hat, wünsche ich dem Verein und der Fanszene hier ganz offiziell den Aufstieg, auch wenn es dann nächstes Jahr wieder nichts mit dem Derby gegen Lecce (aktuell Tabellenführer Serie C) wird – aber das ist eh Zukunftsmusik.

Die Kippe danach:
Nicht aufgelöst wird an dieser Stelle das Rätsel, ob und wie ich unser Auto (?) aus der unmöglichen Parkposition manövriert habe.  Die Erkenntnisse des Tages bleiben aber, dass dieses Apulien wunderschöne Küstenabschnitte und Städte hat und dass ich vielleicht wirklich mal an anderen Stellen als am Rasierer sparen sollte. So ein Einwegrasierer kann echt nix. Mein Gesicht sieht aus wie der Belag meines gestrigen Abendessen – Alter!

PS: Für Fotos ist es mir gerade zu spät. Wer sich den sozialen Medien nicht verweigert, kann diese (und einige weitere) aber auf Facebook einsehen:
https://www.facebook.com/Trespass-1089352417836439


#
Da Traditionen gewahrt werden müssen und sich der Monat langsam gen Ende neigt, hier mal wieder ein Bericht aus Italien im November (auch wenn ich nicht weiß, ob hier das noch jemand liest).
2017er Edition: Derby della Puglia

FC Bari – US Foggia 1:0
geschätzte 30.000 Zuschauer (1.290 Gäste)
Serie B, So. 26.11.17

Petting:
Die internationalen Derbyfestspiele machen an diesem Wochenende auch vor Italien nicht halt. Im Gegenteil: Landauf, landab kommt es zu prestigeträchtigen Duellen. Über allem thront sicherlich der Superclasico in der Toskana, aber auch in der Emilia-Romagna, Umbrien und Apulien treffen alte Rivalen aufeinander. Während halb Athmo-Hopper-Deutschland sicherlich nicht nur ein graues Haar wegen der Posse rund um Pisa–Livorno verloren haben dürfte, umging unsere Reisegruppe dieses Problem direkt, in dem wir das lang erwartete Derby della Puglia zwischen Bari und Foggia auf die Agenda setzten.  Die eigene Erwartungshaltung war irgendwo zwischen riesengroß und Böses ahnend. Nach der de facto Abschaffung der Tessera (oder wie auch immer…)zu Saisonbeginn fährt Foggia alles in Grund und Boden. Utopische Auftritte am anderen Ende des Stiefelschafts, zuletzt mit jeweils über 4.000 Wahnsinnigen in Cesena und Ascoli. In italienlogischer Konsequenz konnte das für heute nur eines bedeuten: Trasferte vietate. Gästeverbot. Die Nachricht schlug mir letzten Freitag derber auf den Magen als eine mit Salmonellen angereicherte Mayonnaise im IKEA Restaurant. Eh schon abgefuckt von der kurzfristigen Verschiebung des kalabrischen Derbys zwischen Catanzaro und Cosenza sowie des Hick-Hacks um die Nicht- oder Dochöffnung des Gästeblocks bei Cavese-Taranto, ließ ich mich zur Kurzschlußreaktion hinreißen, dass mich Italien in nächster Zeit mal gepflegt am ***** lecken kann. Das ausgewählte Methadonprogramm in Kampanien zeigte jedoch Wirkung und ich überdachte die Aussage recht schnell wieder. Derweil meldeten sich immer mehr Personen zu Wort, die sich gegen das Gästeverbot für Foggia aussprachen. Nachdem Baris Trainer Fabio Grosso – der Ein oder Andere dürfte diesen Namen schon einmal im Zusammenhang mit einem deutschen WM-Ausscheiden gehört haben – einen flammenden Appell für die Öffnung des Gästesektors an die Öffentlichkeit richtete, hatte ich zum ersten Mal Hoffnung, dass sich doch noch etwas tun sollte. Am Mittwoch kam es dann tatsächlich zu einem Treffen zwischen Beiden Vereinen und der Questura, an dessen Ende Foggia 1.290 Karten erhalten sollte – allerdings nur mit Tessera. Hörte sich für mich nach einem faulen Kompromiss an, der wohl eh mit Boykott geendet hätte, doch wenige Stunden später wurde der Tessera-Zusatz gestrichen. Jetzt sind 1.290 Karten ja nicht die Masse, aber besser als nichts. Harren wir also mal der Dinge, die noch kommen sollten. Bis zum Spieltag kam aber tatsächlich nichts mehr außer stimmungsvoller Besuche beider Seiten beim jeweiligen Abschlusstraining, so dass davon ausgegangen werden konnte, dass die Kartenvergabepraxis wohl oder über akzeptiert wurde. So viel zum viel zu langen Vorspiel, das aber für das Verständnis des Berichtes oder eher für meine Traumabewältigung nicht ganz unwichtig ist.

Hauptakt:
Gegen 9:00 verlassen wir unser Basecamp in Lecce und treten die Reise zum UFO-Landeplatz vor der Hauptstadt Apuliens an. Anstoßzeit des Derbys: Sonntag, 12:30 Uhr. Möchte mal wissen, wem da die Pasta nicht bekommen ist, um auf eine solche Idee zu kommen. Als hätte man nichts anderes zu tun. Eigentlich wollte ich um diese Zeit ja eine der zahlreichen kleineren und unbekannteren Szenen auf dem Pfennigabsatz des italienischen Stiefels wegscheppern, aber da machte mir irgend so ein semilustiger Spieltagsgestalter mit einem fetten, schwarzen Pilot Marker einen Strich durch die Rechnung. Ede sagt immer, dass er an mir neben meinen Prinzipien mag, dass ich immer positiv eingestellt bin. Liebevoll ausgedrückt könnte man sagen, dass ich versuche, in allem das Gute zu sehen. Realistisch betrachtet rede ich mir einfach auch die allergrößte Scheiße schön. Ergo: Wenigstens wird es bei einem Spielbeginn zur besten Sonntagsbratenzeit nicht kalt.  12:30 Uhr heißt auch, dass auf dem Weg nicht allzu viel schief gehen sollte, will man halbwegs pünktlich erscheinen. Als mir 45 Minuten nach Abfahrt Verkehrsschilder wieder den Weg nach Lecce weisen und wir eine vor geraumer Zeit bereits passierte Unfallstellstelle erneut umkurven, stellen wir fest, dass die Tangenziale um die Barockstadt im Kreis führt. Guten Morgen. Auf der zweiten Runde finden wir die richtige Abfahrt, ab nun heißt es für mich und unseren ultimativ hässlichen Toyota AYGO nur noch Vollgas – mehr als 135 Kilometer in der Stunden könnten wir so aber selbst bei optimalsten Rahmenbedingungen nicht zurücklegen. Die Umwelt dankt es. Bei einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 110 hole ich so trotzdem wertvolle Minuten heraus, die wir im Anfahrtsstau auf das Raumschiff des Nikolauses jedoch schneller wieder einbüßen als der BVB eine Vier-Tore-Führung gegen Schalke. Der Süditaliener mag dieses Gewusel aus Autos, Menschen, Vespas und Borghettiverkäufern ja gewohnt sein, für das kühle Temperament eines Mittelhessen ist das alles zu viel. Also einfach irgendwo auf einer schmalen Straße entgegen der Fahrtrichtung geparkt und raus – wie wir hier später weg kommen, sehen wir dann. Merke: Erst handeln, dann denken. Mit diesem Motto bin ich noch nie auf die Schnauze gefallen.

Kurzer Blick zur Uhr: Halbe Stunde bis zum Anpfiff. Weit hinter Zeitplan, aber theoretisch noch machbar. Am Wort „theoretisch“ wird der aufmerksame Leser bereits erkennen, dass es in der Praxis nicht so einfach werden soll. Warum sollte man auch mehr als zwei Eingänge öffnen? In Reih und Glied stehen die Wartenden hier in einer Schlange, die fast bis nach Foggia reicht, und lassen sich von den Angeboten der mobilen Kaffeelikörverkäufer berieseln. Hätte ich nicht wie immer den Part am Steuer, ich hätte die Offerte von vier zum Preis von fünf (also Euro) sicherlich nicht nur einmal angenommen. So geht es eben nüchtern und erstaunlich zügig bis zum Drehkreuz. Die Zeitersparnis dürfte daher rühren, da dem kontrollierenden Personal aufgefallen ist, dass so ein Namensabgleich zwischen Ticket und Ausweis unheimlich viel Zeit in Anspruch nimmt, weswegen irgendwann darauf verzichtet wurde. Ab jetzt nur noch easy going: Barcode in den Scanner, Drehkreuz durchschreiten, Beine in die Hand, und pünktlich zur epischen Hymne „Bari Grande Amore“ sitzen wir auf unseren Knackärschen. Funktioniert heute halt nur bis zum Punkt „Barcode in den Scanner“. Letzterer liest ersteren nicht, womit sich die gusseiserne Tür nicht in die gewünschte Richtung drehen lässt. Während aus dem Stadioninneren die ersten Klänge der Hymne erscheinen, tröste ich mich damit, dass Foggia auch nicht komplett im Stadion ist. 50 Meter neben uns werden die bekannten Fahnen der Curva Nord geschwungen, im Gegensatz zu uns allerdings schon hinter dem entscheidenden Tor. Mehrmalige Versuche bringen keine Verbesserung der Situation. Utopische Böller kündigen das große Finale der Hymne an. Die Tifosi in der Reihe hinter uns werden langsam ungehalten. Eigentlich sollte ich vor Scham im Boden versinken. Das Gefühl der Scham stellt sich jedoch nicht ein, zu sehr überwiegt die Verzweiflung. Unsere Rettung sind die erstaunlich entspannten Jungs direkt hinter uns. Unter den zugedrückten Augen des Oberordners dürfen wir mit ihnen gemeinsam das Drehkreuz passieren. Mille Grazie und Print@home-Tickets merda!

Jetzt hält mich nichts mehr. Es sind nur noch drei Minuten bis Kick-Off, also sprinte ich direkt in den ersten Block und bekomme den Mund vom Staunen nicht mehr zu. Was für eine Choreo, die sich da über die komplette Nord erstreckt. Auf Folienbahnen über den Unterrang sind die wichtigsten Bauwerke der Stadt gemalt, im Oberrang aus Pappen das Castello (?) dargestellt. Ein bombastisches Bild, das auch über mehrere Minuten gehalten wird. Spätestens jetzt ist die ganze Anspannung und der Frust um das stressige Einlassprozedere verflogen. Tiefenentspannt nehmen wir kurz darauf gefühlt die letzten freien Sitzschalen im Oberrang der Gegengeraden ein. Seit meinem letzten Besuch hier sind auch schon wieder fast genau drei Jahre vergangen. Verändert hat sich seitdem nichts, sieht man mal davon ab, dass einige Teile der Dachkonstruktion mittlerweile wohl weder vor Regen noch vor Sonne schützen. Ob hier in der Zwischenzeit mal ein Reinigungsdienst vorbeigeschaut hat, lässt sich auch nur vermuten, jedenfalls habe ich das Gefühl, dass sowohl der Staub auf den Sitzen als auch die in der Halbzeitpause unfreiwillig inspizierte, eingetrocknete Kacke auf dem Klo schon damals so vorhanden war. Irgendwie ja hochgradig sympathisch, irgendwie aber auch wirklich schade, dass solch ein einmaliges Stadion so verkommt. Da ist ja die Körperhygiene eines Reisepartners des letzten Wochenendes professioneller als die Instandhaltung des Stadio San Nicola – und der hätte laut glaubwürdigen Aussagen eine Woche lang nicht die Zähne geputzt („Zahnbürste ist nur unnützer Ballast“).

Wie heißt es so klassisch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Übersetzt ins Hier und Jetzt heißt das, dass wir uns in unmittelbarer Nähe der Foggiani platzieren müssen. Ein schöner Blick auf den settore ospiti bleibt uns so verwehrt, dafür gibt es umso mehr auf die Ohren. Meine Fresse, machen die einen Deebes (oberhessisch für: Lärm/Radau). Zum Intro werden im oberen Teil mit kleinen roten, im unteren mit schwarzen Plastikfähnchen gewedelt, danach die Flächen der geschwenkten Stoffe vergrößert und jede Menge Großfahnen durchgängig durch die Luft bewegt. Angetrieben von einem Einpeitscher und einer leider etwas zu leisen Trommel, ist das schon ganz großer Spocht. Soweit man das erkennen kann, handelt es sich bei den 1.290 Gästen auch annähernd komplett um Szeneleute. Bis in die letzten Reihen tragen die Tifosi T-Shirts der Curva Nord oder der jeweiligen Gruppen aus Norden und Süden. Überraschend auch, dass für Italien relativ junge Durchshmittsalter. Da scheint es in Foggia doch auch genügend Nachwuchs zu geben. Allerdings gebe ich zu, dass ich das nicht wirklich gut erkennen kann, wird mir beim Blick nach links doch schnell schwummerig. Das liegt jedoch weder an meiner Höhenangst, noch an der SS-Totenkopf-Fahne des alten Regimes, sondern schlicht und einfach an der aus dieser Richtung unbarmherzig strahlenden Sonne. Gut,jetzt wäre es eine zu einfache Überleitung zu sagen, dass ich mehr schwitze als die Akteure auf dem Rasen. Aber unerwarteterweise muss ich konsternieren, dass das gelogen wäre. Die geben sich wirklich allerhand Mühe. Da wird um jeden Ball gekämpft und gegrätscht, Chancen gibt es auf beiden Seiten zu Genüge und der Sportskamerad an der Pfeife kommt mit dem Zücken gelber Karten gar nicht mehr nach. Würde sich doch nur ein Spieler erbarmen und das Spielgerät mal in die Maschen dreschen, es wäre nicht auszumalen, was hier los wäre. So krankt das Spiel aber unter dem Problem, an dem so viele Fußballveranstaltungen in Italien leiden: Es will kein Tor fallen. In der sowohl reellen als auch sprichwörtlichen Hitze der ersten Halbzeit ist das dem Heimpublikum noch egal. Da schlackern dir die Ohren, was teilweise für eine Lautstärke erzielt wird. Wenn sich annähernd die komplette Curva Nord und Teile der restlichen Baresi einklatschen, hören wir den Gästeblock selbst trotz Nähe zu ihm nicht mehr. In den ersten 45 Minuten ist das schon bärenstark. Über Akustik müssen wir nicht reden, optisch ebenfalls nicht, obwohl heute anstatt der Reviermarkierungen von Bulldog, Seguaci und Re David nur das Spruchband „Bari Capoluogo di Regione“ (bedarf keiner weiteren Übersetzung) hängt. Leider wirkt die Balustrade so etwas leer, dem Anlass des Tages ist es aber angemessen. 20 lange Jahre, solange ist es her, dass das letzte Derby zwischen Bari und Foggia ausgetragen wurde (sieht man von einem Coppa Spiel 2015 ab). 20 Jahre – so lange, dass ich dieses Spiel gar nicht mehr auf der Rechnung hatte und Bari immer nur in Verbindung mit Lecce als großen Hassfeind brachte (immerhin auch sechs Jahre nicht gespsielt. Pro Aufstieg Lecce!).

Leider ändert sich die Szenerie im zweiten Durchgang etwas. Während ich weiterhin genüsslich abwechselnd die süßen Düfte von ganz ungezwungen gezündeten Rauchdosen und verbrannten Harzen der Cannabispflanze einatme und mich nicht entscheiden kann, was mir besser gefällt, geben sich sowohl Spieler als auch Zuschauer mehr und mehr mit dem torlosen Remis ab. Passend dazu ist der gleichsam lebensspendende und -zerstörende Himmelskörper von Wolken verdeckt, was zur trostlosen Szenerie passt. Ich übertreibe. Das ist Meckern auf ganz hohem Niveau. Foggia weiterhin bärenstark in der Kurve, auch Bari setzt noch Glanzlichter, hält diese aber nicht mehr so lange wie noch vor Seitenwechsel. Beim „Chi non salta“ springt dann jedoch wieder das ganze Stadion und pöbelt in dieser unnachahmlichen Art und Weise in Richtung Foggia, dass es eine wahre Pracht ist. Und was machen die? Drehen den Spieß einfach um und schreien dabei lauter als 30.000 Baresi kurz zuvor. Ja, der sich anbahnende Punktgewinn wäre tatsächlich ein Gewinn, weshalb nochmals alle Register gezogen werden. Schalparade, Klatscheinlagen, intensive Melodien, viel Gepöbel. Als gegenüber Baris Curva Nord selbst bei einem Freistoß aus 22 Metern mehr oder weniger gelangweilt Dale Bari tanzt, ist klar, dass nichts mehr passiert. Der Ampelkarton für Gästespieler Coletti zehn Minuten vor Ultimo lässt das Publikum nochmals ausrasten, die numerische Überlegenheit kann die Heimelf aber nicht entscheidend ausspielen. So feiern weiterhin die ungeliebten, aber willkommenen Gäste, während ich zwar sehr zufrieden bin, aber auch etwas traurig, da so viel mehr Potenzial dagewesen wäre.  

Doggystyle:
Für Italien lächerlich wenige vier Minuten Nachspielzeit zeigt der vierte Offizielle an. Zweimal hat der Zeiger schon seine Runde gedreht, da kommt eine scharfe Hereingabe in den Strafraum der Gäste. Es ist nur ein kurzer Moment, während dem der rechte Fuß Cristian Galanos den Ball berührt. Er reicht aber aus, um eine ganze Mannschaft, ein ganzes Stadion, eine ganze Stadt in Ekstase zu versetzen. Diese freigesetzte Urgewalt beim Torjubel – wären die Dinosaurier nicht schon ausgestorben, spätestens das wäre deren Ende gewesen. Ich weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Die Mannschaft, die mitsamt allen Auswechselspielern, Betreuern, Platzwarten und was weiß ich was alles vor der Kurve feiert? Die Fans direkt dahinter, die in Dreierreihen auf dem Zaun hängen und wie durch ein Wunder nicht nach vorne über fallen? Die Kurve selbst, die komplett am Austicken ist? Der in Schockstarre verfallene Gästeblock, der zunächst zu keiner Reaktion fähig ist? Ich entscheide mich für mein direktes Umfeld. Da sind die kleinen Jungs. Ein zweistelliges Alter dürften sie noch nicht lange haben, trotzdem stehen sie auf den Wellenbrechern und machen diese einmaligen Armbewegungen in Richtung Foggiani. Da ist der Nikolaus höchstpersönlich. Lange graue Haare, rote „Ultras Bari 1976“ Jacke, wahrscheinlich aus eben diesem Jahr, rote Hose, rote Schuhe, roter Schal am Handgelenk, rote Fahne. Die ganze Zeit wirkte er, als müsste er einer Coldplay Platte lauschen, auf einmal führt er sich auf wie ein Duracell-Häschen auf Koks. Die restlichen Zuschauer stehen diesen Beispielen in nichts nach, jeder will der Größte beim Pöbeln sein. Beim anschließenden „Chi non salta“ dürften selbst die Seismographen am Vesuv noch ausgeschlagen haben. Momente für die Ewigkeit. Diese Momente, diese Personen, diese Beobachtungen – das (und viel mehr) ist es, was für mich das Faszinierende an diesem bescheuerten Hobby ist. Es ist so viel mehr als Spiel, Stadion und Stimmung. Ich schweife ab. Während ich mich also noch frage, ob es jetzt besser wäre, die Tore fallen vorher und halten die Stimmung konstant hoch oder ob so eine krasse Explosion das Nonplusultra ist, explodiert noch etwas ganz Anderes. Aus der Südkurve kamen wohl ein paar übermütige Baresi bedenklich nahe an den Gästeblock, der diese Provokation mit Papierbomben erwidert. Leider erwischt es dabei auch einen Ordner, der von mehreren Personen gestützt aus dem Stadion getragen werden muss und nach aktueller Info noch im Krankenhaus liegt. Als ein weiterer Sprengsatz wenige Meter neben uns einschlägt, wird unser Block geräumt und wir nach draußen gebeten. Von dort hören wir nur noch jubelnde Einheimische. Mit dem heutigen Sieg ist Bari Tabellenführer der Serie B. Auch wenn das bei der punktemäßigen Enge der Liga nichts zu sagen hat, wünsche ich dem Verein und der Fanszene hier ganz offiziell den Aufstieg, auch wenn es dann nächstes Jahr wieder nichts mit dem Derby gegen Lecce (aktuell Tabellenführer Serie C) wird – aber das ist eh Zukunftsmusik.

Die Kippe danach:
Nicht aufgelöst wird an dieser Stelle das Rätsel, ob und wie ich unser Auto (?) aus der unmöglichen Parkposition manövriert habe.  Die Erkenntnisse des Tages bleiben aber, dass dieses Apulien wunderschöne Küstenabschnitte und Städte hat und dass ich vielleicht wirklich mal an anderen Stellen als am Rasierer sparen sollte. So ein Einwegrasierer kann echt nix. Mein Gesicht sieht aus wie der Belag meines gestrigen Abendessen – Alter!

PS: Für Fotos ist es mir gerade zu spät. Wer sich den sozialen Medien nicht verweigert, kann diese (und einige weitere) aber auf Facebook einsehen:
https://www.facebook.com/Trespass-1089352417836439


#
Habe noch nicht die Zeit aufgebracht, das alles zu studieren. Aber auch in Ausschnitten schon ein toller, lebhafter Bericht, der Lust auf Fußball und Reisen gleichermaßen macht. Danke dafür!
#
Großartig!

Bitte Fotos dann auch bald hier.

Meldung von mir dann nächste Woche nach einem Ausflug ins Paradise (Celtic vs Motherwell).
#
Da bei uns im Eintracht Fanclub zwei Bari Tifosi sind, haben die beiden den tollen Bericht natürlich mit großer Aufmerksamkeit gelesen.
#
Da bei uns im Eintracht Fanclub zwei Bari Tifosi sind, haben die beiden den tollen Bericht natürlich mit großer Aufmerksamkeit gelesen.
#
Klasse !!!.

Liest sich super. Vielen Dank, dass Du uns immer wieder so eindrucksvoll an Deinen Erlebnissen und Deiner Leidenschaft teilhaben lässt.


Teilen