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Ausflug zu den Wurzeln der Kovač-Brüder - Auf eine Bockwurst in den Wedding

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Eine kleine Vorbemerkung: Da es mein  Terminkalender letzte  Woche her gab und ich zwischen zwei beruflichen Terminen ca. drei Stunden „Leerlauf“ in Berlin hatte und es ohnehin kein besonders großer Umweg gewesen ist, habe ich die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und mich mal ein bisschen umgesehen, dort wo unser Trainergespann, unsere  Kovač-Brüder aufgewachsen sind und das Fußballspielen erlernt haben. Es war ein schöner Kurztrip, mit zahlreichen Eindrücken. Daher  habe ich mich entschieden, diese mit interessierten Eintrachtlern hier im Forum zu teilen. Es ist am Ende trotz eher kurzem Ausflug doch ein eher langer Text geworden. Leuten mit einer Abneigung für lange Texte sei daher dringend empfohlen, hier  schnell wieder weg zu klicken. Alle anderen die darauf Lust haben und ein bisschen Zeit übrig haben, können sich auf einen kurzen Ausflug eingeladen fühlen.  

Es geht heute also in den Wedding. Jener Berliner Stadtteil, der seit jeher als Arbeiterviertel bezeichnet wird. Dieser Stadtteil, der einen der wenigen Ortsnamen trägt, der im deutschen Sprachgebrauch meistens in Verbindung mit einem Artikel verwendet wird. Warum das so ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden, irgendwie fühlt es sich aber ganz gut an zu sagen, „Ich geh heute mal in den Wedding“. Man fühlt sich diesem Ort dadurch gleich irgendwie etwas verbundener. Man geht ja heute schließlich nicht irgendwo hin, nicht nach Schöneberg, nicht nach Friedrichshain, nicht nach Charlottenburg, nein, man geht in den Wedding. Und die Leute die dort wohnen kommen auch nicht irgendwo her. Sie kommen nicht aus Wilmersdorf, nicht aus Lichtenberg und auch nicht aus Pankow; nein sie kommen aus dem Wedding.  Damit  aber erstmal genug der Wortklauberei an dieser Stelle, der Wedding ist das Ziel.

Wenn man von Pankow aus über die Wollankstraße in den Wedding vordringt, wird man an der Kreuzung Prinzenallee-Badstraße auf eindrucksvolle Weise darauf aufmerksam, dass unsere Kovač-Brüder nicht die einzigen Geschwister sind, die auf den Bolzplätzen der Stadt groß wurden und es später  in der Fußballwelt zu Ruhm und Ehre schafften. Auf dem überdimensionalen Portrait an der Hauswand sind drei Brüder verewigt, von denen einer immerhin Weltmeister, der andere ebenfalls Nationalspieler wurde und  der dritte inzwischen sogar in Musik macht. Und es wird daran erinnert, dass sie  „Gewachsen auf Beton“ sind. Da man sich erhofft, dass sich durch die Musik des ältesten dieser Brüder ein bisschen Wedding-Gefühl einstellt, darf er gerne erstmal als Soundtrack für unsere Forschungsexkursion   in den Wedding herhalten. Ob unsere Kovač-Brüder ebenfalls auf Beton gewachsen sind, das gilt es heute heraus zu finden. Folgt man nun der Pankstraße, so gelangt man allmählich mitten rein in diesen Wedding. Da man sich als Eintracht-Anhänger natürlich vorher etwas schlau gemacht  hat, wo denn nun genau die Wurzeln der Kovač -Brüder liegen, wurde der Leopoldplatz als geeigneter Ausgangspunkt auserkoren. Nachdem der  Leopoldplatz schließlich erreicht und gleich mehrere Male auf erfolgloser Parkplatzsuche   umkreist wurde, kommt es gezwungenermaßen zu einer kurzen  Planänderung, denn erst jenseits der Seestraße kann ein kostenloser Parkplatz, ohne Zeitbeschränkung gefunden werden. Das Auto wird also einen Steinwurf vom Schillerpark in einer Seitenstraße abgestellt, von nun an geht  es zu Fuß auf Wedding-Mission.

Und um die Anfänge der Fußballaktivitäten unser  Kovač –Brüder nachzuvollziehen, ist der Schillerpark sicher nicht die schlechteste Anlaufstelle. Hier sollen die Brüder Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre auf der großen Schillerwiese stundenlang  gekickt haben, wenn sie sich nicht gerade auf einem Bolzplatz in der Wohnsiedlung  auf der anderen Seite der Seestraße aufhielten.  Im Gegensatz zu den Boateng-Brüdern sind die Kovačs also nicht ausschließlich auf Beton sondern zum Teil auch auf Wiese gewachsen.  Wenn man von der Edinburger Straße   den Schillerpark betritt, schweift der Blick sofort über die weite Wiese. Es kommt einem fast ein bisschen befreiend vor, wenn man aus den dicht bebauten Wohnsiedlungen des Weddings heraus tritt und kurz den Blick in die Weite richten kann.  In der Ferne sticht eine dreistufige Terrassenanlage  aus Kalkstein ins Auge. Viele Menschen sind an diesem Werktag  vormittags, so gegen halb elf, noch nicht im Park unterwegs. Vereinzelt begegnen einem Jogger und Joggerinnen, die motiviert ihren Leibesertüchtigungen nachgehen. Und Hundehalterinnen und Hundehalter, jede Menge davon, kommen einem mit ihren vierbeinigen Gefährten entgegen. Wenn man in die Gesichter der Menschen blickt, drängt sich bei vielen der Verdacht auf, dass sie vielleicht älter aussehen, als sie tatsächlich sind. Die Gesichter zeugen von einem Leben, das sicher nicht immer auf der Sonnenseite stattgefunden hat und von einem Leben, welches immer wieder  Nackenschläge und harte Zeiten  bereitgehalten haben muss. Und es darf auch davon ausgegangen werden, dass sie außer  ihren Vierbeinern  kaum jemanden haben, dem sie von den Mühen ihres Lebens erzählen können.
Relativ still  ist es für so einen Park mitten in der Stadt. Lediglich Martinshörner durchbrechen  immer wieder die Ruhe. Direkt am Schillerpark liegt offenbar eine  Rettungswache, von wo aus die Notarztfahrzeuge im Minutentakt zu ihren Einsätzen ausrücken.

Der Vormittag hat den Park in ein seltsam-milchiges Licht getaucht. Fast scheint es so, als ob noch etwas Nebel über der Schillerwiese hängt. Es ist so ein November-Vormittag, an dem die Sonne und die Wolken da oben am Himmel gerade in harte Verhandlungen eingetreten  sind, darüber, was denn das heute für ein Tag werden wird. Soll es eher ein goldener Spätherbst-Tag werden oder doch ein trüber Frühwintertag. Noch lässt sich nicht sagen, wer sich in diesen Verhandlungen am Ende durchsetzen wird.

Am Rande der großen Wiese geht der Weg nun weiter, immer in Richtung dieser steinernen Terrassen. Man kommt an einem dieser berühmt-berüchtigten Fußball-Käfige des Weddings  vorbei, der allerdings an diesem  Vormittag ziemlich verlassen zwischen herbstlichen Sträuchern  steht. Wenn man sich von hinten den Terrassen nähert, gelangt man über eine Treppe zunächst auf die höchste Stufe. Von hier hat man einen tollen Blick über die große Schillerwiese. Man kann dort wunderbar auf der Mauer sitzen und sich vorstellen, wie da unten die kleinen Kovač-Jungs dem Ball nachjagen. Und sicherlich war der kleine Niko schon damals, zu Schillerwiesen-Zeiten, so eine Art Anführer der  Kicker da unten.

Eine herannahende Kitagruppe, die unter großem Gejohle den nahen Spielplatz stürmt, reißt einen schließlich aus diesen Tagträumereien. Aber man muss ja auch weiter, den Wedding erkunden. Wenn man die Treppen herunter steigt, steht man auf der mittleren Stufe der Terrassen dem für den Park namensgebenden Dichter gegenüber. Hier steht er in Bronze gegossen, dieser Schiller, dem ja nachgesagt wird, dass er eine durchaus innige Freundschaft mit einem Bub aus Frankfurter gepflegt haben soll. Dieser Schiller stand auch schon da oben, als die Kovač-Brüder unten auf dem Rasen Fußball spielten. Konzentriert, fast schon ein wenig streng blickt er von dort auf die Schillerwiese, gerade so, als ob er von dieser hervorragenden Sichtposition aus die nächste Generation der Super-Kicker aus dem Wedding scouten würde.

Der Legende nach muss es sich nämlich da unten auf der Wiese, irgendwann in den frühen 1980er Jahren zugetragen haben.  Der junge Niko kickte  mit seinem Bruder und noch ein paar anderen Jungs, wie so oft, auf der Schillerwiese. Dabei soll der wieselflinke, feine Techniker auf der Wiese,   einem Verantwortlichen vom ortsansässigen Fußballverein, dem SC Rapide Wedding  aufgefallen sein. Angeblich wurde  noch vor Ort nicht lange gefackelt  und Papa- Kovač, der zufällig auch vor Ort war, soll nachdrücklich gebeten worden sein, mit seinem Niko mal zum Training der Jugendmannschaft von Rapide Wedding vorbei zu kommen.  Mate Kovač, zögerte nicht lange und brachte neben Niko auch gleich den etwas jüngeren Robert mit zum Training. Von da an nahm die Fußball-Geschichte der Kovač-Jungs ihren Lauf. Die überragenden Schillerwiesen-Kicker und Bolzplatz-Größen Niko und Robert waren im Vereinsfußball angekommen.

Und an dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs zum ersten Fußballverein der Kovač-Brüder erlaubt:
Der Sport-Club Rapide Wedding  war ein Berliner Traditionsverein, mit langer, bewegter Geschichte. Man spielte über Jahrzehnte im gehobenen Berliner Fußball und nahm u.a. in den 1970er Jahren zwei Mal an der Hauptrunde des DFB-Pokals teil. So scheiterte Rapide beispielsweise in der DFB-Pokalsaison 1975/1976 mit 2:9 am VfB Stuttgart, obwohl man bis zur 30. Spielminute sogar mit 2:0 führte. Die Stuttgarter waren damals unter anderem mit so bekannten Namen wie Helmut Roleder, Willi Entenmann, Egon Coordes , Dieter Brenninger und einem gewissen Ottmar Hitzfeld in den Wedding gereist. Beim kurzen Einlesen in die Geschichte des SC Rapide Wedding stößt man unter anderem auf die Information, dass der heutige Bundesligaschiedsrichter Manuel Gräfe und unser Robert Kovač in der Jugend von Rapide Mannschaftskollegen waren.  Hoffentlich bekommen wir den Herrn Gräfe nun regelmäßig als Schiri-Ansetzung, weil man ja keine Ex-Mitspieler verpfeift, und schon gar nicht solche, mit denen man eine Vergangenheit im Wedding teilt.

Man  stößt aber  überraschenderweise  auf eine weitere Spur, die Rapide Wedding mit  Eintracht Frankfurt verbindet. Denn die Kovač-Brüder sind nicht die ersten, die für Eintracht Frankfurt tätig waren und deren Stammverein der SC Rapide Wedding  ist. Ein gewisser Heinz Gründel stammt  ebenfalls aus dem Wedding und spielte erstmals auf Vereinsebene für den SC Rapide.  Und diese Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Auch der Gründel hat  mit der Eintracht  einstmals die Relegation erfolgreich überstand und dann durchaus Anteil am folgenden Aufschwung gehabt.  Es waren die Zeiten, als in Frankfurt der Begriff  „Fußball-2000“ erstmals die Runde machte. Und da sage noch jemand „Geschichte wiederholt sich nicht“. Die Verbindung Wedding-Frankfurt scheint jedenfalls  unter keinem so schlechten Stern zu stehen.
Leider gibt es den SC Rapide in seiner ursprünglichen Form heute nicht mehr, da man zu Beginn des neuen Jahrtausends mit dem SV Nord-Nordstern zum SV Nord Wedding fusionierte. Dieser Verein konnte nicht an frühere Erfolge anknüpfen und kickt inzwischen in der Kreisliga B. Immerhin führt man aber Tagesaktuell die Tabelle an und hofft  am kommenden Wochenende die Tabellenführung gegen den SC Westend 01 II weiter ausbauen zu können.  

Aber nun zurück zu unserem Kurztrip in den Wedding, denn wir  wollen ja weiter. Der Weg geht weiter durch den Schillerpark. Über dem  Norden des Parks donnern in enger Taktung die Maschinen, die sich in geringer Höhe im unmittelbaren Landeanflug auf TXL befinden.  Das Fahrwerk haben diese Maschinen längst   ausgefahren, von hier aus mögen es gut und gerne noch 2000 Meter Luftlinie bis zur Landebahn in Tegel sein. Der Fußballplatz am Rande des Schillerparks  -  übrigens ein gepflegter Kunstrasenplatz, der offensichtlich täglich vom herumwirbelnden Herbstlaub befreit wird – liegt zu dieser Zeit noch ruhig und unberührt zwischen Bäumen. Sportplatz Ungarnstraße wird die Anlage offiziell genannt.
Dieser Sportplatz ist übrigens die Heimspielstätte des BFC Meteor 06. Unrühmliche Aufmerksamkeit erlangte dieser Verein durch einen Vorfall bei einem Spiel seiner dritten Mannschaft im Jahre 2015. Aber sportlich gibt es über den  BFC Meteor 06 auch schöne Sachen zu berichten.  Denn ein Welt- und Europameister lernte hier das kicken, „Icke“ Häßlers erster Fußballverein war der BFC Meteor, also ein weiterer großartiger Fußballer aus dem Wedding.

Vom Sportplatz Ungarnstraße hört man   den tosenden Verkehrslärm, der von der nahen Seestraße herüber schallt. Diese Seestraße ist im „mittleren Norden“ von Berlin eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen. In östlicher Richtung wird sie bald zur Osloer Straße und später zur Bornholmer Straße und führt in den Prenzlauer Berg. In der anderen Richtung wird sie jenseits des Westhafens zur A100, der Berliner Stadtautobahn. Dementsprechend hoch ist hier das Verkehrsaufkommen. Die Straßenüberquerung ist daher eine herausfordernde Angelegenheit. Man benötigt an der Fußgängerampel mindestens zwei, eher drei Grünphasen, um wirklich von einer Straßenseite auf die andere zu gelangen,  denn neben den jeweils zwei Fahrspuren in jede Richtung, verläuft in der Mitte der Straße auch noch die doppelgleisige Tram. Aber es hilft nix, wir müssen da rüber, um weiter auf den Spuren der Kovač-Jungs zu wandeln.  Wenn man nun, nach erfolgreicher Überquerung  der Seestraße einige Meter in südwestlicher Richtung folgt, die Einmündung der Malplaquetstraße links liegen lässt, steht man plötzlich an der Straße, in der die Familie Kovač in den 70er und 80er Jahren gelebt hat, der Turiner Straße. Man bleibt fast etwas ehrfürchtig an der Fußgängerampel unter dem Straßenschild stehen, schüttelt sich dann aber kurz, man will ja schließlich keinen Star-Kult betreiben und als das Ampelmännchen auf grün schaltet, biegt man ein in die Straße, die die Kovač-Brüder unzählige Male rauf und runter gelaufen sein müssen.  

Der erste Eindruck: Eine typische Berliner Seitenstraße in einem Wohngebiet. Die Häuser gehen auf beiden Seiten bis in der 5. Stock hoch, beige ist die dominierende Farbe der Fassaden und obwohl es eine Seitenstraße ist, wirkt sie kein bisschen beengend, denn die Städteplaner haben glücklicherweise dafür gesorgt, dass ordentlich Platz ist zwischen den Häuserfassaden auf beiden Straßenseiten. Da ist ausreichend Platz für eine Straße mit Verkehr in beide Richtungen, da ist Platz für jede Menge Parkplätze  auf beiden Straßenseiten (von denen übrigens restlos alle belegt sind) und da ist auf beiden Straßenseiten sogar noch Platz für einen breiten Gehsteig. Diese Turiner Straße wirkt also durchaus einladend an diesem November-Morgen und ermuntert einen, in sie hinein zu  schlendern.  Am Himmel über dem Wedding sieht es inzwischen übrigens ganz danach aus, als hätte sich die Sonne durchsetzen können und es läuft alles auf einen freundlichen Spätherbsttag hinaus. Auch diese Tatsache macht Lust darauf, diesen Wedding weiter zu erkunden. Auf beiden Seiten der Straße also typische Berliner Wohnsiedlungsbauten: Man gelangt durch das Eingangstor an der Straße durch einen Durchgang auf einen begrünten, teils mit hohen Bäumen bewachsenen Hinterhof, von wo aus man weitere Wohneinheiten oder gar weitere Hinterhöfe erreicht. Gut vorstellbar, dass auch diese Hinterhöfe von fußballverrückten Jungs Ende der 70er, Anfang der 80er dazu genutzt wurden, um ihrer Leidenschaft auf engem Raum nachzugehen.

Auf dem Weg, weiter die Turiner Straße hinunter gibt es vor einem Laden plötzlich Aufregung mit kleinerer Rudelbildung. Der Fahrer eines LKW, der offensichtlich diesen Laden mit frischer Ware beliefert, hat den Warnblinker gesetzt und macht sich mit Gelassenheit ans Entladen. Dies führt nach kurzer Zeit zu einem kleinen Rückstau, denn so viel Platz bietet die Turiner Straße dann doch nicht, dass man da so ohne weiteres an einem mittelgroßen LKW beim Entladen vorbei fahren kann.  Nach wenigen Sekunden schallt die erste Hupe durch die Turiner Straße. Das Hupen wird ca. fünf Mal in geringen Zeitabständen wiederholt und jedes Mal dauert das Hupsignal etwas länger. Schließlich steigt ein älterer Mann aus seinem grauen Kia Ceed, der in erster Reihe in diesem kleinen Rückstau steht. Graue Haare, graue Hose, graue Jacke, Brillenmodell aus den Zeiten, in denen die Kovač-Jungs noch in der Straße wohnten. Eigentlich fehlt nur die Herrenhandtasche am Handgelenk, um das Bild abzurunden, aber die liegt bestimmt irgendwo im grauen Kia Ceed. Der Kia-Ceed-Opa brüllt sofort los: „Sach ma, du kannst doch hier nich die Straße einfach dicht machen und in aller Ruhe ausladen!!!“ Erwiderung des LKW-Fahrers. „Ick kann det jetz hier nich ändern, ick bin in weniger als sieben Minuten weg.“ Daraufhin der Kia-Ceed-Opa nicht mehr wirklich brüllend, aber immer noch laut genug, dass die Turiner Straße mit hören kann: „Pass ma uff, ick hab mit meiner Frau um zwölf ein Fußpflege-Termin in Reinickendorf, wat globst du, wat mir mein Madamchen  für’ne Szene macht, wenn wir da nich  pünktlich einmar.schieren?“ Antwort des LKW-Fahrers  (achselzuckend): „Wie gesagt, ick bin hier gleich weg.“ Daraufhin der Kia-Opa (wieder fast schon brüllend): „Ick glob det jetz nich, det kann doch nicht wahr sein!!!“. Inzwischen ist ein weiterer Kraftfahrer ausgestiegen und gesellt sich zu dem schimpfenden  Kia-Opa. Es ist ein junger Mann, vermutlich mitte-ende zwanzig, offensichtlich türkischer oder arabischer Abstammung, stattliche Erscheinung, dicke Jacke, gepflegter Vollbart, dazu schwarz-silberne  Trucker-Cap. Er fährt eine edle Limusiene, schwäbischer Bauart mit extrem getönten Scheiben und eindrucksvollen Felgen. Er geht beschwichtigend auf den Kia-Opa zu: „Ey das geht hier jetzt auch nicht schneller, wenn du rum schreist, bleib mal ganz locker.“ Als Beobachter dieser Situation möchte man gerne mit bekommen, wie das hier jetzt weiter geht. Andererseits  will man aber auch nicht wie ein Gaffer stehen bleiben. Also geht man weiter, behält die Szene aber weiterhin im Augenwinkel. Der Kia-Opa und der Trucker-Cap-Araber kommen ins Gespräch. Leider ist man nicht mehr nahe genug dran, um wirklich zu verstehen, was geredet wird.  Es ist auf jeden Fall ein äußerst angeregtes, aber kein feindseliges Gespräch. Nach weniger als fünf Minuten hat schließlich der LKW-Fahrer sein Entladen beendet und gibt die Strecke wieder frei. Es kommt zum Hand-Shake zwischen dem Kia-Opa und dem Trucker-Cap-Mann, sogar ein freundlicher Schulterklopfer ist zum Abschied dabei und alle besteigen ihre Fahrzeuge und fahren ihrer Wege. Viel Lärm also, aber alles halb so wild, man kann getrost die Turiner Straße weiter runter laufen. Die „Taverna Hellas“ hat noch geschlossen, macht aber den Eindruck, als ob man dort während der Öffnungszeiten eine grundsolide  Grillplatte mit Pommes und reichlich Tzatziki bekommen kann. Die Stromkästen in der Turiner Straße wurden   von achtsamen Anwohnern, mit possierlichen Katzen-Bildern verschönert. Ziemlich am Ende der Straße wird aus Norden kommend auf der linken Seite die Fassade an einem Haus neu verputzt. Eine ältere Bewohnerin kehrt gerade, schwer bepackt mit Einkäufen zurück. Sichtlich erfreut über den Baufortschritt tätschelt sie einem der Arbeiter die Wange und sagt „Ach mein Freund, det habt ihr aber schön jemacht.“  Sieh mal einer an, dieser Wedding kann auch ganz schön herzlich, es menschelt hier mehr, als man auf den ersten Blick denken mag. Der Bauarbeiter lächelt verlegen,   offensichtlich hinderte ihn aber die Sprachbarriere daran, eine passende Antwort zu formulieren. Die Bewohnerin stört sich daran nicht. Eine weitere Bewohnerin betritt den Eingang und begrüßt die andere Bewohnerin: „Lange nicht jesehen, wie jeht's uns denn?“ Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Bescheiden, beschissen jeht’s einem, aber nützt ja nüscht, da müssen wa jetzt durch, bald is ja Weihnachten und dann ham wa det Jahr auch wieder jeschafft.“ Beide Frauen lachen darauf herzlich. Ein paar Meter weiter die gleiche Frage zwischen zwei älteren Männern: „Na wie jehts denn so?“ Antwort: „Beschissen wäre jeprahlt, wa?“  Auch hier wieder Gelächter. Im Wedding wird offensichtlich gerne mit dem eher mäßigen Befinden kokettiert. Zumindest aber wird hier nicht  mit einem floskelhaften  „ganz gut“ auf die Frage „Wie geht’s?“, geantwortet, wie das  andernorts so üblich ist, selbst wenn es einem eigentlich beschissen geht.  

Man geht nun noch wenige Schritte und dann ist man auch schon durch, durch die Turiner Straße im Wedding. Puh, kurz durchatmen.
Beim Verlassen der Straße fällt der Blick sofort auf die nahegelegene Neue Nazarethkirche. Rund um diese Kirche ist etwas städtischer Freiraum vorhanden. Einen metallenen Basketballkorb gibt es dort, einige Bänke laden zum Verweilen ein. Dieses Angebot wird  vor allem von älteren Männern genutzt. Sie treffen sich dort offensichtlich häufiger zur Mittagszeit auf 3 bis 8 kühle Sternburg Export. Im Schatten der Neuen Nazarethkirche dann wieder so ein Weddinger Fußball-Käfig. Es ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass dieser Fußball-Käfig schon zu den Zeiten da war, als die Kovač-Jungs hier noch umher tollten, aber wenn er damals schon dort gestanden hätte, dann wären der kleine Niko und der kleine Robert hier sicher die Platzhirsche gewesen.

Nachdem man nun also eine Runde um die Kirche gedreht hat, macht man sich auf zum nahegelegenen Leopoldplatz, vorbei an der Alten Nazarethkirche. Man kommt immer wieder an Bänken vorbei, auf denen Männer sitzen deren Gesichter davon erzählen, dass ihr Leben ein ständiger Kampf um ein bisschen Glück gewesen sein muss. Und vielen ist anzusehen, dass dieser Kampf oft genug ein aussichtsloser war. Mit trüben Blicken welken sie hier vor sich hin, lediglich die   Flasche Oettinger  (wahlweise auch  Kindl oder Sterni) in der Hand, scheint ihnen etwas Halt zu geben. Am Leopoldplatz sind schon einige Weihnachtsmarkt-Buden aus weißen Brettern aufgestellt, auch wenn der eigentliche Weihnachtsmarkt  hier erst am 3. Adventswochenende steigt. Flammkuchen, Glühwein und gebrannte Mandeln kann man jedenfalls schon heute erwerben.

Der erste Gedanke, wenn man den Leopoldplatz erreicht hat:  Ganz schön was los hier!  Hier kreuzen sich die Müller- und die Schulstraße, die in ihrem weiteren südwestlichen Verlauf ab hier zur Luxemburger Straße wird. Dementsprechend herrscht hier Verkehr und zwar von allen Seiten. Aber auch auf den Gehwegen ist einiges los. Großstadtlärm von allen Seiten, überall Leute, sehr unterschiedliche Leute. Eine bunte Mischung aus allem. Bei den Frauen sind Kopftücher ein beliebtes Accessoire, die Jungs und Männer unter 30 Jahren bevorzugen Baseball-Kappen.  Die Bevölkerung soll sich neben den Menschen ohne Migrationshintergrund vor allem aus Menschen zusammensetzen, deren Vorfahren aus der Türkei stammen. Aber auch Menschen mit arabischer, afrikanischer, osteuropäischer Abstammung prägen das Stadtbild im Kiez. Und natürlich Leute mit dem „Balkan-Gen“.  All das wird   hier am Leopoldplatz, oder am „Leo“ wie ihn die einheimischen nennen, auf den ersten Blick deutlich. Aber auch zahlreiche junge Menschen, die man dem ersten Eindruck nach in die Kategorie Stundeten einordnet sind unterwegs, die vermutlich aus Böblingen, Siegburg oder Neustadt am Rübenberge zugezogen sind, weil die Mieten hier im Wedding noch nicht in diesen abgehobenen Sphären wie in Kreuzberg, Friedrichshain oder Mitte schweben.

Einen Steinwurf weiter das Rathaus-Wedding. Gegenüber, an einer dieser zahlreichen fensterlosen Brandwände, die es im Wedding  irgendwie viel häufiger zu geben scheint als andernorts, steht hoch oben, in überdimensionalen Buchstaben ein schlichter Satz geschrieben: HARTS 4 ESSEN SEELE AUF! Ob der Nachname des Erfinders der „Agenda 2010“ hier versehentlich falsch geschrieben wurde oder ob es sich um einen Kunstgriff handelt ist schwer zu beurteilen. So oder so scheint der Satz  ein prägendes Lebensgefühl im Wedding  irgendwie treffend zu beschreiben. Leider macht die genau über der Dachkannte stehende Novembersonne ein ordentliches Foto unmöglich, aber das Internet verschafft ja Abhilfe.

Da sich inzwischen Hunger eingestellt hat und dringend ein Ort gesucht wird, um diese Flut von Eindrücken irgendwie erstmal geordnet zu bekommen, wird am Leo nach einem Imbiss oder einem Restaurant gesucht. Die Wahl fällt auf das Pamfilya, ein Döner-Restaurant, und beim Betreten weiß man sofort, dass das die richtige Wahl war. Schlichte, funktionale Tische und Stühle, solide Einrichtung und ein Platz mit Blick auf das bunte Treiben da draußen rund um den Leo ist auch noch frei. Man wird richtig freundlich begrüßt. Schnell ist ein Döner bestellt und prompt bekommt man unaufgefordert einen türkischen Tee hingestellt. Dieser warme Tee tut gut und ist genau das richtige, um die Impressionen des Weddings erstmal sacken zu lassen.

Hier kommen sie also her diese Kovač-Brüder, denkt man, die Kovač-Brüder  die inzwischen so weit weg vom Wedding leben und arbeiten. Und auch wenn sie längst raus gezogen sind, in die große Fußball-Welt: Sich vorzustellen, dass so eine Kindheit hier im Wedding prägend ist und für immer Einfluss auf das Leben hat, egal wie weit weg vom Wedding man inzwischen lebt, dafür bedarf es keiner allzu großen Phantasie. Und eines  ist auch  klar: Falls es irgendwo  eine Profi-Fußballverein mit einem Spielerkader mit Spielern aus 17 verschiedenen Nationen geben sollte, dann sollte dieser Profi-Fußballverein tunlichst alles dafür tun, dass er einen Trainer für diese Spieler bekommt, der hier im Berliner Wedding aufgewachsen ist. Wer hier groß wird, der saugt vom ersten Atemzug kulturelle Vielfalt auf. Für den ist Vielfalt Heimat und vermutlich sogar so normal, dass man darüber  gar nicht viele Worte macht. Man darf sich jedenfalls sicher sein, dass es für einen Bundesliga-Trainer, der hier groß geworden ist, keine Phrase ist, wenn er Internationalität im Kader nicht als Problem sondern als Bereicherung, als fruchtbare Gegebenheit beschreibt, in der alle voneinander lernen. Miteinander leben, sich aneinander reiben und voneinander lernen. Im Wedding bleibt einem  praktisch gar nix anderes übrig. Und ja, dieser Wedding zwingt einen förmlich dazu, dass Leben zu lernen. Was man hier  sieht,   das reicht nicht für irgendwelche wilden Ghetto-Phantasien, nein, dafür ist das da draußen alles fast ein bisschen zu bieder. Aber eines ist auch klar: Mit Ferien auf Immenhof und Kinder von  Bullerbü hat so eine Kindheit im Wedding vermutlich wenig zu tun. Der Wedding scheint neben zahlreichen liebenswerten Charakterzügen auch eine schlitzohrige, eine gerissene, vielleicht sogar eine hinterhältige Seite zu haben. Der Wedding ist keine Pussy, kein Ort für Weicheier. Da draußen, zwischen all den Spielhallen, Wettbüros, Spätis und den verruchten Hinterhöfen, da sind sicherlich  genügend  Fallen aufgestellt, die heranwachsende Jungs und Mädchen an allen Ecken dazu verleiten können, in ihrer Biographie die falschen Abbiegungen zu nehmen.

Während man diesen Gedanken nachgeht,   meint man eine leise Ahnung davon zu bekommen, was die Eltern der Kovač-Brüder, also der Zimmermann Mate Kovač und seine Frau, für hoch anständige, tüchtige  Leute sein müssen. Sie haben es geschafft, hier in diesem Umfeld ihren Jungs auf der einen Seite das nötige Selbstbewusstsein mit zu geben, damit sie in diesem rauen, von harten Jungs geprägten Kiez bestehen konnten und auf der anderen Seite haben sie ihren Jungs Tugenden wie Ehrgeiz, Disziplin, Hingabe und Genauigkeit vermittelten, von denen sie noch heute profitieren, die ihre Triebfedern in ihrem Trainerjob bei Eintracht Frankfurt sind  und ohne die sie vermutlich niemals diese Karriere als Profi-Fußballer und derzeitige Wundertrainer hätten hinlegen können. Und wenn man dazu noch bedenkt, dass es vor allem auch die zwischenmenschlichen Werte sind, die die Kovač-Eltern ihren Jungs Niko und Robert vorlebten und vermittelten, wenn Niko Kovač heute beispielsweise davon spricht, dass er in Sachen Mannschaftsführung versucht „Mensch zu sein“, dann bleibt einem nur zu sagen: Hut ab Mate Kovač und eine mindestens genau so tiefe Verbeugung vor seiner Frau.  Was die  Kovač-Eltern da geleistet haben, ist aller Ehren wert, denkt man so vor sich hin.

Inzwischen wird der Döner gebracht und der junge Mann, der ihn bringt blickt auf die Zettel und den Stift, welche  auf dem Tisch liegen und fragt grinsend: „Na noch schnell Hausaufgaben machen?“  Der junge Mann macht es einem leicht, schnell in ein witziges Gespräch zu kommen. Wie sich später raus stellen soll heißt er Serdar und kommt offensichtlich aus dem Wedding. Und dieser Serdar kommt einem schnell auf die Schliche, da er fragt: „Du kommst nicht von hier, oder?“ Eine Frage,   mit der man vermutlich in irgendeiner Seemannskneipe an der mecklenburgischen Küste rechnen würde, aber nicht hier im Wedding. Aber dieser Serdar scheint ein feines Gespür für die Leute zu haben. Und obwohl man sich vor dem Ausflug in den Wedding ausdrücklich vorgenommen hat, hier keine Leute mit pseudo-journalistischen Fragen voll zu quatschen, weil man zum einen kein Journalist ist und weil man zum anderen das ganze einfach auf sich wirken lassen wollte, erzählt man diesem ab dem ersten Moment sympathischen und vermutlich auch ganz schön schlitzohrigen Serdar, dem man ansieht dass er den Wedding kennt und dass er das Leben hier beherrscht, dann doch ziemlich schnell, warum man hier ist. Serdars grinsende,  entwaffnende Anmerkung dazu: „Krass Mann, du bist hier, weil du mal gucken willst wo so ein Fußball-Typ herkommt. Bist du ein Groupie oder so?“ Gute Frage denkt man dann. Ist man eigentlich schon ein Groupie, wenn man mal nachsehen will, wie es da so ist, wo die Kovač-Brüder herkommen. Irgendwie fühlt man sich ertappt von diesem Serdar. Dieser meint jetzt: „Iss mal deinen Döner jetzt.“ Der Döner ist so, wie ein richtig guter Döner sein muss: Das Fleisch stammt von einem Grillspieß, auf dem wirklich noch Fleischlappen übereinander gesteckt werden (nicht so eine Keule aus Brät, in der alle möglichen Fleischabfälle verwolft werden), die Sauce ist noch eine echte Döner-Sauce auf Joghurtbasis, mit echtem Knoblauch (keine Majo-Basis, keine Geschmacksverstärker) und der Salat ist auch top und hält sich in dieser Döner-Tasche angenehm im Hintergrund. Zwischenzeitlich hat Serdar einen neuen Tee gebracht  und unterhält sich gerade draußen auf der Straße mit einem Bekannten, der offenbar zufällig vorbei kam.
Dann kommt er zurück in den Laden und räumt meine Teller ab. Man kommt wieder ins Gespräch. Und wenn dieser Serdar einem schon auf den ersten Blick ansieht, dass man nicht von hier kommt, dann traut man sich zumindest ihn zu fragen, oder er denn aus dem Wedding kommt.  Seine Antwort: „Ja Mann, der Wedding ist meine Heimat.“ Er sagt das mit Stolz in der Stimme. Er berichtet, dass er mal ein Jahr in Schöneberg war, es dort aber nicht ausgehalten hat und dass er einfach zurück musste. Er sagt Sätze wie: „Hier labert dich keiner voll, hier kannst du dein Ding machen.“  Und einen bemerkenswerten Satz sagt er dann auch noch (und der ist ohne Mist nicht ausgedacht!): „Viele finden den Wedding abgefuckt, kaputt und das is ja auch so, aber für mich ist das meine Heimat, hier sind die Straßen aus Gold.“  Die insgesamt drei türkischen Tees, die  Serdar brachte werden wie selbstverständlich nicht berechnet, Döner für 4,50€ ist für Berliner Verhältnisse stattlich aber wenn man ehrlich ist, war er jeden Cent wert. Als man zurück auf den Leo tritt, ist man fast ein bisschen überwältigt von der Begegnung mit Serdar, da man nicht damit gerechnet hätte, dass man auf diesem Ausflug hier solche Sätze, wie die von Serdar   zu hören bekommt. Sätze von denen man sich zumindest einbildet, dass sie ein bisschen tiefergehend das  Lebensgefühl des  Weddings vermitteln, Sätze, die man sich selbst niemals  hätte ausdenken  können, wenn man versucht hätte, diesen Kiez zu beschreiben.

Wieder draußen an der frischen Luft entscheidet man sich, noch mal in Richtung Turiner Straße zu laufen und denkt dabei natürlich  an die Frage von Serdar „Bist du ein Groupie oder so?“. Eine überaus berechtigte Frage eigentlich, wenn man da mal genauer drüber nachdenkt,  ein wenig verrückt ist es definitiv, was man hier gerade macht. Es gab zumindest noch niemals irgendwann einen Cheftrainer bei der Frankfurter Eintracht, bei dem man sich gefragt hat, wie und wo der wohl seine Kindheit verbracht hat. Das war noch nie von Interesse. Ziemlich verrückte Zeiten. Entweder dreht man als Eintracht-Fan gerade komplett ab, oder die Kovač-Brüder vollbringen nicht nur Wunderdinge mit ihrer Mannschaft, sondern haben auch noch die Fans verzaubert. Nicht auszuschließen, dass es eine Mischung aus allem ist. Es könnte einem fast etwas unheimlich werden.

Und dann läuft man sie noch einmal ab, die Turiner Straße, diesmal aus der anderen Richtung, von unten nach oben. Man denkt darüber nach, was das eigentlich für eine geile Geschichte ist, dass ein Junge aus der Turiner Straße hier im Wedding es tatsächlich mal geschafft hat, später als Fußballer das Trikot von Juventus Turin zu tragen und in dieser Mannschaft gemeinsam mit Leuten wie Gianluigi Buffon, Giorgio Chiellini, Pavel Nedved oder Alessandro Del Piero spielte. Man saugt sie noch mal auf, die Eindrücke der Turiner Straße. Immer wieder fallen einem diese fensterlosen Brandwände ins Auge. Und wie immer in diesem Berlin, wenn irgendwo eine freie Fläche zur Verfügung steht, wird Kunst daraus gemacht. An der Kreuzung Turiner-Amsterdamer-Straße  - Juve trifft auf Ajax schießt es einem kurz durch den Kopf - gibt es den  „Mini Markt“. So ein Laden, der in Berlin auch Späti genannt wird und wo man im Zweifel auch alle  lebenswichtigen Dinge, also in erster Linie Bier, nach Ladenschluss bekommt, wobei Ladenschluss in Berlin ja ohnehin eher seltener vorkommt als in anderen Städten. Auf der Tafel vor dem Mini Markt steht geschrieben „Hier gibt’s warmen Kaffee“. Dieses Angebot ist in diesem Moment  zu verlockend, um den Mini Markt nicht zu betreten.

Auch eine ältere Frau hat offensichtlich ähnliche Pläne.  An der Leine hat sie aber einen kleinen Hund, etwa kaninchengroß, der dieses Vorhaben noch nicht wirklich gut findet. Er möchte nicht, oder vielleicht kann er auch altersbedingt einfach nicht mehr  die wenigen Stufen hinauf steigen. Die ältere Frau wird an dieser Stelle   bewusst nicht als  „Älterer Dame“ bezeichnet, da diese ältere Frau aus dem Wedding vermutlich gereizt reagiert hätte, wenn man sie z.B. mit „gnädige Dame“ angesprochen hätte. Gut vorstellbar, dass sie kurz aus der Haut gefahren wäre und gesagt hätte: „Hören se ma junger Mann, ick bin keene Dame. Ick bin ne sehr patente Frau hier aus dem Wedding. Und det sage ick nich ohne Stolz. Ick hab hier mehr erlebt, als sie sich vielleicht vorstellen können. Ick bin so ziemlich allet, aber ick bin keene Dame! So wat möchte ick nich noch mal hören. Hamwa uns da verstanden?.“ Jedenfalls möchte der Hund nicht die Stufen rauf. Die ältere Frau ist darüber nicht erfreut und ruft mit ihrer rauer Stimme, die an Katharina Thalbach erinnert:  „Mann Gismo, komm jetzt!“  Gismo macht keinerlei anstalten. Die patente, ältere Frau aus dem Wedding flucht etwas vor sich hin und packt ihren Gismo dann und trägt ihn wenig zärtlich die zwei Stufen nach oben. Nachdem sie beide den Laden betreten haben ruft sie sofort mit ihrer Katharina-Thalbach-Stimme durch den Laden: „Eine Bockwurst!“. Der Mann hinter der Laden-Theke könnte dem ersten Eindruck nach „Balkan-Gene“ in sich tragen, ob es wirklich so ist, lässt sich nicht  klären. Er erwidert promt: „Senf? Ketchup?“ Daraufhin die ältere Frau sehr entschlossen: „Senf!“ Antwort des Mannes hinter der Theke: „Eins-achzig“.  Man denkt: Geil! Ein Gespräch, welches sich auf die wesentlichen Informationen beschränkt, die für dieses da ablaufende Geschäft notwendig  sind. Nix mit „Guten Tag“,  „Danke“,  „Bitte“ oder so. Vielleicht war es genau diese Art von Kommunikation die Serdar vorhin meinte, als er sagte „Hier labert dich keiner voll“.  Die ältere Frau kramt inzwischen ihr Geld hervor und bezahlt passend. Kurze Zeit später erhält sie ihre Bestellung und platziert sich an einem der beiden Stehtische um ihre Bockwurst zu genießen. Aus dem Augenwinkel lässt sich beobachten, dass Gismo – mit dem die ältere Frau mit der Katharina-Thalbach-Stimme  unentwegt spricht - auch was von der Bockwurst hat. Man bestellt einen großen Kaffee zum Mitnehmen. Dieser wird sofort abgefüllt und mit einem Deckel versehen. „Eins-vierzig!“  Auf die Frage: „Habt ihr Milch?“ Postwendende Antwort: „Nee, nur Kaffeesahne. Ein oder zweimal?“ Hm ach so, danke, „Einmal reicht!“ Also wird einmal Kaffeesahne in den Pappbecher gegossen.  Eins-vierzig wird ebenfalls passend bezahlt, man sagt aus Gewohnheit „Danke, Tschüss, schönen Tag  noch.“ Antwort: „Tschüss.“  Man tritt wieder auf die Turiner Straße und freut sich, dass die Hände durch den heißen Kaffeebecher etwas gewärmt werden.

Kurze Zeit später ist wieder die vor sich hin tosende Seestraße erreicht. Der Plan eine Abkürzung über den städtischen Urnenfriedhof zu nehmen, scheitert grandios, da zwar alle Tore an der Südseite, also zur Seestraße hin, offen sind, aber alle Tore auf der Nordseite, zur Ungarnstraße abgeschlossen sind. Über die Friedhofstore zu klettern wird als zu pietätlose Option angesehen. Dann also doch einmal außen rum um den weitläufigen Friedhof und zurück in den Schillerpark. Vorbei am BFC Meteor 06 Sportplatz, der inzwischen offensichtlich zu Schulsportzwecken genutzt wird. Jedenfalls tobt  eine große Anzahl von  Kindern im Grundschulalter schreiend und jauchzend über den Kunstrasenplatz. Inzwischen sind noch mehr Hunde als vorhin im Schillerpark unterwegs. Auf der großen Schillerwiese jagen sie den  unterschiedlichsten Wurfgeschossen nach, welche von ihren Herrchen und Frauchen abgefeuert werden. Und da noch etwas Zeit zur Verfügung steht, wird eine freie Parkbank aufgesucht um noch mal über diesen Wedding nachzudenken. Die Sonne über dem Schillerpark hat jahreszeitlich bedingt nicht mehr genügend Kraft, um wirklich Wärme auszustrahlen aber immerhin wirft sie ein freundliches Licht auf den Wedding. Der Kaffee mit einmal Kaffeesahne drin ist keine Offenbarung aber auch nicht so schlimm wie befürchtet. Und angenehm warm ist er auch noch. Es lässt sich also noch ein wenig aushalten hier an der großen Schillerwiese.

Und während  man die Eindrücke der letzten ca. 2,5 Stunden noch mal revuepassieren lässt versucht man diesen Wedding mit passenden Adjektiven zu versehen. Eigentlich ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist, denn der Wedding lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes einfach nicht fassen. Alle folgenden Beschreibungen lassen  sich vermutlich irgendwie auf einmal auf den Wedding anwenden ohne dass es schizophren ist: dreckig, echt, durchtrieben, bunt, kriminell, ungeschminkt, unterschätzt, missachtet, undurchdringlich, geliebt, herzlich, kaputt,  schön, furchtbar, im Aufbruch, verwegen, authentisch, am Ende, spießig, abgefuckt, spannend, bieder, pulsierend, heruntergekommen, im Kommen, grau.

Touristen, die auch zu dieser Jahreszeit zu tausenden nach Berlin kommen, sind hier im Schillerpark nicht anzutreffen. Kein Rollkoffergeklapper, keine geführten Segway-Touren und abends vermutlich auch keine organisierten Pub Crawls durch die Schultheiss-Kneipen. Der Wedding hat auf eine angenehme Art so gar nix von dieser Überdrehtheit, die andere Stadtbezirke der Hauptstadt prägt.  Wie gesagt: Der Wedding scheint ein raues Pflaster zu sein. Und sicher auch kein  Hort der Glückseligkeit. Aber er scheint eine ehrliche Haut zu sein, dieser Wedding. Er macht einem nix vor. Er stellt nix dar, was er in Wirklichkeit nicht ist. Hier wird nicht versucht eine Fassade zu wahren, die es nicht gibt. Auf Höflichkeits-Floskeln wird hier in der Sprache weitgehend verzichtet. Und doch sind die Leute aus dem Wedding ständig auf der Suche nach zwischenmenschlicher Wärme. Es menschelt an allen Ecken, es ist nur nicht immer so offensichtlich, wie bei der Bewohnerin in der Turiner Straße, die so erfreut ist über den Baufortschritt an der Häuserwand, dass sie dem Bauarbeiter die Wange tätschelt und dieser, obwohl er kein Wort versteht, sofort weiß, was sie sagen möchte. Oft ist das "Menschelnde" hier etwas subtiler, aber es ist da. Warum sonst geht die ältere Frau mit ihrem Hund Gismo im „Mini-Markt“ unter den Leuten eine Bockwurst essen und macht sich nicht etwa eine  Discounter-Wurst in den eigenen vier Wänden warm? Warum sonst ließe  sich der Kia-Opa von dem jungen Trucker-Cap-Araber beschwichtigen, obwohl er zuvor  aus Furcht, dass ihm sein „Madamchen“ Stress macht, wenn er sie nicht pünktlich zum Fußpflege-Termin chauffiert, in der Turnier Straße wild darauf los schimpfte. Und nicht zuletzt: Warum kann Serdar einem in dem Döner-Restaurant auf den ersten Blick  ansehen, ob man  aus dem Wedding kommst oder nicht? Und vor allem wie schafft er es auf seine sympathisch, schlitzorige Art, mit wenigen Sätzen, fremden Leuten den Spiegel so vor zu halten,  dass die sich  plötzlich über sich selber wundern. Das alles würde nicht stattfinden, wenn dieser Kiez nicht auch eine überaus menschliche Seite hätte.  Der Wedding mag ein  gerissener Hund sein,  aber er ist nicht  „hintenrum“. Hier wird dir nicht das Blaue vom Himmel versprochen. Die Schultheiss-Kneipe am Schillerpark heißt nicht etwa „Zur schönen Aussicht“ oder gar „Bellevue“ oder so was abgedrehtes; nein, sie heißt schlicht „Bierbar am Park“ und das 0,5er Schultheiss bekommt man für 2,40€. Der Erotik-Shop an der Seestraße heißt schlicht und einfach „Sex-Laden“ und am „Mini-Markt“ in der Turiner Straße steht dran, dass es warmen Kaffee gibt. Wahlweise natürlich mit ein oder zweimal Kaffeesahne natürlich, aber es gibt warmen Kaffee. Hier im Wedding gilt: Drin ist, was drauf steht.

Und doch  bleibt auch festzuhalten: Dieser Wedding rollt niemand den roten Teppich aus. Hier im alten Arbeiterkiez, wo einstmals die Arbeiter von den Werken der AEG oder von Osram lebten, werden – abgesehen von ein paar türkischen Tees aufs Haus – keine großen Geschenke verteilt, hier musst du dir alles erarbeiten.  Der Wedding ist ein harter Hund, vielleicht ist er manchmal sogar eine Drecksau. Um hier bestehen zu können, brauchst du klare Ziele, Disziplin, Willen und Leidenschaft. Und du darfst keine Angst vor Menschen haben. Du musst auf sie zugehen können und mit ihnen reden können, auf ihrer eigenen Wedding-Redensart. Wer hier auf’s Maul kriegt, muss sich kurz schütteln und dann wieder aufstehen, sonst geht er unter. Wer hier rumflennt, kriegt gleich noch eins auf die Schnauze. Hier musst du dich behaupten, hier darfst du dich nicht einschüchtern lassen, hier musst du im Zweifel auch mal dagegen halten.  

Und wenn man sich das alles an diesem sonnigen November-Mittag  hier auf der Schillerwiese so vor Augen führt und dann an unsere Trainer, an Robert aber vor allem auch an unseren Cheftrainer Niko Kovač denkt, dann bildet  man sich ein, eine Ahnung davon zu bekommen, wie viel von diesem Wedding noch in den Kovač-Brüdern  stecken muss. Als Beobachter scheint man die wesentlichen Charakterzüge des Weddings in den  Kovačs wiederzuerkennen. Gepaart mit den zwischenmenschlichen Werten, die ihnen ihre Eltern und möglicherweise  auch Jugendtrainer und andere Bezugspersonen vermittelten, bilden diese Wedding-Skills vermutlich auch heute die Grundlage  ihrer derzeitigen  Wundertrainer-Tätigkeit.

Gleich auf seiner Vorstellungs-Pressekonferenz im März dieses Jahres hat Niko Kovač klargestellt, dass er die Fußballer-Sprache, die Sprache des Weddings beherrsche. Es bedarf zwar einiger Phantasie, wenn man ihn in Interviews oder auf Pressekonferenzen in seiner druckreifen Sprache reden hört, aber zuzutrauen ist es ihm schon, dass er die derbe, teilweise ordentlich testosterongesteuerte Sprache der Fußballkäfige des Weddings verstehen und sprechen kann.  Für jemanden, der in den Käfigen des Weddings bestanden hat, ist es keine große Herausforderung mit den Tigern einer Profi-Fußballmannschaft fertig zu werden, selbst wenn die die Wesenszüge eines fauchenden Alpha-Tigers haben, wie beispielsweise so ein Haris Seferovic. Wer aus dem Wedding kommt, der ist  schlicht und einfach authentisch, wenn er immer und immer wieder auf die Unverzichtbarkeit von Sachen wie Disziplin, Willen, Hingabe, Leidenschaft und Zusammenhalt hinweist. Man nimmt ihm ab, dass er einen Plan hat. Und genau das weist er ja derzeit immer wieder eindrucksvoll nach. Der Mann hat höchste Ziele, er hat höchste Ansprüche an seine Leute er macht klare Versprechungen aber erzählt einem nicht das Blaue vom Himmel. Er erwartet von seinen Leuten volle Hingabe, er erwartet das Maximum aber er erwartet nichts unleistbares. Er erwartet das, was er selber zu leisten im Stande war. Man muss sich schlicht  die Aussagen seiner oben erwähnten Vorstellungs-Pressekonferenz anhören: Alles was er damals  angekündigt hat, wurde  von ihm  eingelöst bzw. umgesetzt. Kein Versprechen ist er schuldig geblieben. Und vielleicht liegt genau in diesem Punkt der Zauber von Niko Kovač, der dazu führt, dass man ihm als Eintracht-Anhänger gerade so zu Füßen liegt, der dazu führt, dass man sich erstmals überhaupt bei einem Eintracht-Trainer fragt wo der überhaupt her kommt und wo seine Wurzeln liegen, oder dass man vielleicht erstmals zu so einer Art Trainer-Groupie wird, wie es Serdar aus dem Dönerrestaurant am Leopoldplatz vermutlich ausdrücken würde.

Dieser Niko Kovač ist kein Dampfplauderer, er ist kein Selbstdarsteller. Was er sagt hat Hand und Fuß. Bei ihm gilt, genau wie beim Wedding: Drin ist, was drauf steht. Er nimmt sich selbst nicht wichtiger als er ist sondern stellt alles in den Dienst der Sache. Und wenn er es mal krachen lässt, dann nie um jemanden herabzuwürdigen sondern weil er es für das Große und Ganze in diesem Moment  als notwendig erachtet. Er hat selber die Hingabe, die Leidenschaft, die er von seinen Leuten fordert, er lebt alles vor was er erwartet und  schießt dabei selber nie über das Ziel hinaus oder wird gar unfair. In seinen Charakterzügen scheint  er das Feuer eines Carlos Zambranos und die Ruhe und Abgeklärtheit eines Alex Meiers zu vereinen. Und was ihm natürlich auch zu Gute kommt ist die Tatsache, dass er mit allen Wassern gewaschen ist. Er kennt die Taschenspielertricks der Branche und kann sich darauf einstellen und ist vorbereitet. Exemplarisch sei noch mal an den Ersatzball erinnert, den er beim Auswärtsspiel in Darmstadt letzte Saison immer parat hielt für den Fall, dass die Lilien Zeitschind-Spielchen veranstalten würden.

Und der Junge aus dem Arbeiterkiez, dem Wedding, weiß aus eigener Erfahrung, was  alles durch harte Arbeit erreichbar ist. Noch so ein Zitat aus der Pressenkonferenz im März: „Es wird nicht einfach, aber was ist schon einfach im Leben?“ Jedem anderen Trainer würde man sofort mit dem Phrasenschwein vor der  Nase wedeln, nicht bei Niko Kovač. Ihm nimmt man das ab, Kovač weiß was dieser Satz bedeutet.  Wenn etwas nicht so klappt, wie geplant, wenn man gar vom Pech verfolgt wird, dann ist jammern keine Option für ihn. Dann muss man halt an einer anderen Stelle eine Schippe drauf legen und noch härter arbeiten. Um eine solche Einstellung zu entwickeln ist der Wedding sicher nicht die schlechteste Schule.

Und dieser harte Arbeiter Niko Kovač aus dem rauen Arbeiterbezirk hat mit seiner Arbeit darüber hinaus  etwas ausgelöst, was voller Anmut ist und für viele Eintracht-Anhänger eine völlig  neue Erfahrung. In tausenden Herzen von Eintracht-Fans keimen nämlich derzeit ganz zarte Pflänzchen. Und diese zarten Pflänzchen bestehen  aus Träumen. Es sind keine abenteuerlichen Träume, keine unrealistischen Träume. Aber es sind auch keine Alpträume, nein es sind schöne Träume. Und dieses Gefühl ist für Eintracht-Fans daher so neu, da es ihnen über Jahre  verboten war zu träumen. Immer und immer wieder wurde ihnen gebetsmühlenartig erklärt, dass die Bundesligatabelle keinen Raum für Träume bereit hält, da sie  mindestens so zementiert sei, wie die Bausubstanz im Berliner Wedding.

Die Tatsache, dass  der Kaffee mit  Kaffeesahne aus dem „Mini-Markt“ inzwischen alle ist und auch der Uhrzeiger ein wenig drängt, reißt einen aus diesen möglicherweise etwas   pseudo-stichhaltigen Überlegungen, in denen versucht wird den Bezug zwischen der Herkunft der Kovač-Brüder und ihrer heutigen Arbeitsweise zu ergründen. Ob an all den Überlegungen was dran ist, könnten im Endeffekt nur die Kovač-Brüder selber beurteilen. Aber die sollten anstatt solche Belanglosigkeiten  zu beurteilen, lieber ihre Zeit darauf verwenden,   was sie am besten können. Also zum Beispiel solche Sachen wie  lahmende Außenverteidiger zu Raketen umfunktionieren, ins Stottern geratene japanische Mittelfeldmotoren  zu Weltklasse- Liberos  verwandeln, junge spanische Rohdiamanten schleifen, buchholzer Zopfträger bei Laune zu halten  oder seelenlose  Trümmertruppen  zu einer leidenschaftlichen, feurigen und aufregenden Fußballmannschaft zu formen.  Und wenn man als Eintracht-Anhänger in dieser Vorweihnachtszeit einen einzigen Wunsch auf einen Zettel schreiben dürfte, dann wäre es sicher der, dass die Kovač-Brüder, die   aus dem Wedding stammen, das was sie am besten können, noch möglichst lange im Dienste von Eintracht Frankfurt machen.
So wird also der Schillerpark an diesem November-Mittag fast ein wenig wehmütig verlassen. Man sucht das Auto auf und gibt die Zieladresse für den nächsten Termin ein. Und so rollt man los. Auf der Suche nach einem geeigneten Sender fürs Autoradio bleibt man bei  „Fritz“ vom RBB hängen, denn dort spielen sie einen Song des Berliner Rappers „Kontra K“ der behauptet  "Erfolg ist kein Glück."

Jetzt ist nicht überliefert, ob Niko  Kovač   etwas für   Sprechgesang mit deutschen Texten übrig hat. Wovon man aber ausgehen kann ist die Tatsache, dass er mit den Botschaften des Textes von „Kontra K“ was anfangen könnte. Darin heißt es zum Beispiel:

Talent ist harte Arbeit, Perfektion dauert Jahre
Wenn sie schreien ich hab es leicht, dann habt ihr leider keine Ahnung
Wir kommen tief aus dem Dunklen entgegen der Erwartung
Hass und Neid, Blut und Schweiß gibt dem Leben nur mehr Erfahrung
Ausdauer ist der Schlüssel für den Ruhm
Es gibt viel was mir fehlt, aber davon hab ich genug


Erfolg ist kein Glück
Sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen
Das Leben zahlt alles mal zurück


Und mit dieser Musik im Ohr geht es aus den Seitenstraßen des Weddings, rauf auf die Müllerstraße und dieser dann in südöstlicher Richtung folgend. Vorbei an der U-Bahnstation Seestraße, vorbei am Leopoldplatz. Noch mal ganz kurz ein bisschen Wedding-Gefühl einatmen. Und dann weiter, am S-Bahnhof Wedding vorbei, wo die Müllerstraße dann irgendwo in die Chausseestraße übergeht und wo dann spätestens ab dem  Oranienburger Tor   ein ganz  anderes Berlin anfängt, eines, was mit dem Wedding so gar nichts mehr gemein  hat.

Dieses glitzernde, saubere Berlin. Dieses völlig überdrehte Berlin.  Dieses Berlin mit tollen schillernden Fassaden aus Glas und Stahlbeton, wo einem die Läden das Blaue vom Himmel versprechen. Dort wo Lafayette, H&M, Zara, Lacoste, Boss, Gicci und Marc O´Polo, Picard, Linus,  Napapijri und wie sie alle heißen nur drauf lauern, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Mit unbändigen Versprechungen zum „Black Friday Sale“ wollen sie einen in ihre Tempel locken. Hinter glitzernden Fassaden, wo sie „Die Besten Angeboten zum Cyber Monday“  für einen bereithalten.  Dieses Berlin der Kaffee Einsteins  und von Starbucks.  Dort wo mit Höflichkeitsfloskeln wie „Einen Wunderschönen guten Tag“, „Kann ich sonst noch was für Sie tun?“, „Vielen Dank“, „Sehr gerne und einen schönen Tag noch“ nur so um sich geworfen wird und wo man dann aber doch  bestenfalls  mitleidig  belächelt wird, wenn man einen großen Kaffee mit zweimal Kaffeesahne bestellt. Wo die entgeisterte Antwort auf so eine Bestellung lautet: „Großen Kaffee haben wir nicht, wir haben nur tall, grande oder venti. Und Kaffesahne haben wir auch nicht, aber ich mache Ihnen sehr gerne einen Java Chip Frappuccino  oder einen Toffee Nut Latte. Oder probieren sie doch mal unseren ausgezeichneten Chai Latte.“  Und Bockwurst mit Senf bekommt man bei Starbucks vermutlich auch nicht  so ohne weiteres. Und schon gar nicht werden einen die Starbucks-Verkäuferinnen mit einem grinsenden „Du kommst nicht von hier, oder?“ begrüßen. Denn sie haben sicher in ihrem Express-Coaching gelernt, dass man so nicht mit Kunden spricht. Schade eigentlich für die Starbucks-Kunden.

Und während man hier in der adventlich herausgeputzten Friedrichsstraße so über Lafayette, H&M, Zara, und Starbucks nachdenkt, möchte man eigentlich am liebsten auf der Stelle umdrehen und auf direktestem Wege zurück in den Wedding fahren. Man möchte sich eine Bockwurst ohne „Bitte“, „Danke“, „Sehr gerne“ dafür aber mit reichlich Senf bestellen. Man möchte literweise Kaffee mit möglichst viel Kaffeesahne in sich hinein kippen und man möchte sich danach mit der älteren Frau mit ihrem Gismo, mit dem Kia-Creed-Opa, dem Trucker-Cap-Araber und mit Serdar auf ein paar große, frisch gezapfte Schultheiss für 2,60€ in der Bierbar am Park treffen.

Leider aber sieht der Terminkalender nun diese  Friedrichstraße in Berlin-Mitte vor. Wehmütig seufzt man vor sich hin und denkt:  „Ach ja, der Wedding.“  Für einen kurzen Moment möchte man sogar sagen „Mein Wedding“. Im gleichen Augenblick beißt man sich aber auf die Zunge und verbietet sich so etwas zu sagen. Denn das wäre tatsächlich eine unverzeihliche Anmaßung  gegenüber den Leuten, die wirklich aus dem Wedding kommen. Gegenüber der älteren Frau mit ihrem Gismo, gegenüber dem Kia-Creed-Opa und seinem Madamchen, gegenüber dem Trucker-Cap-Araber,  gegenüber  Serdar, für den die Straßen im Wedding aus Gold sind und nicht zuletzt gegenüber Niko und Robert Kovač , den Brüdern aus der Turiner Straße. Alle die dürften mit Fug und Recht sagen: „Mein Wedding“. Aber nicht irgendein  daher gelaufener  Trainer-Groupie.  Nein der darf das nicht, der darf sich höchstens  wohlwollend an einen kurzen, eindrucksvollen  Ausflug an einem Novembertag in den Wedding erinnern.
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Danke für diese tolle Lektüre in der Mittagspause. Einfach ein geiler Bericht. Solltest Du den Kovac Brüdern mal zukommen lassen.

Hut ab
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Danke, eine echte Perle
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Phantastisch, Brodowin - hiermit hast du dich wieder selbst übertroffen !
Deine Geschichten lesen sich wie ein Buch, in dessen Handlung man sich reinversetzen kann. Ich bin beim Lesen förmlich mit dir durch den Wedding gelaufen - ganz großes Kino und dickes Kompliment für diesen liebevoll ausgearbeiteten Beitrag !
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Eine kleine Vorbemerkung: Da es mein  Terminkalender letzte  Woche her gab und ich zwischen zwei beruflichen Terminen ca. drei Stunden „Leerlauf“ in Berlin hatte und es ohnehin kein besonders großer Umweg gewesen ist, habe ich die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und mich mal ein bisschen umgesehen, dort wo unser Trainergespann, unsere  Kovač-Brüder aufgewachsen sind und das Fußballspielen erlernt haben. Es war ein schöner Kurztrip, mit zahlreichen Eindrücken. Daher  habe ich mich entschieden, diese mit interessierten Eintrachtlern hier im Forum zu teilen. Es ist am Ende trotz eher kurzem Ausflug doch ein eher langer Text geworden. Leuten mit einer Abneigung für lange Texte sei daher dringend empfohlen, hier  schnell wieder weg zu klicken. Alle anderen die darauf Lust haben und ein bisschen Zeit übrig haben, können sich auf einen kurzen Ausflug eingeladen fühlen.  

Es geht heute also in den Wedding. Jener Berliner Stadtteil, der seit jeher als Arbeiterviertel bezeichnet wird. Dieser Stadtteil, der einen der wenigen Ortsnamen trägt, der im deutschen Sprachgebrauch meistens in Verbindung mit einem Artikel verwendet wird. Warum das so ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden, irgendwie fühlt es sich aber ganz gut an zu sagen, „Ich geh heute mal in den Wedding“. Man fühlt sich diesem Ort dadurch gleich irgendwie etwas verbundener. Man geht ja heute schließlich nicht irgendwo hin, nicht nach Schöneberg, nicht nach Friedrichshain, nicht nach Charlottenburg, nein, man geht in den Wedding. Und die Leute die dort wohnen kommen auch nicht irgendwo her. Sie kommen nicht aus Wilmersdorf, nicht aus Lichtenberg und auch nicht aus Pankow; nein sie kommen aus dem Wedding.  Damit  aber erstmal genug der Wortklauberei an dieser Stelle, der Wedding ist das Ziel.

Wenn man von Pankow aus über die Wollankstraße in den Wedding vordringt, wird man an der Kreuzung Prinzenallee-Badstraße auf eindrucksvolle Weise darauf aufmerksam, dass unsere Kovač-Brüder nicht die einzigen Geschwister sind, die auf den Bolzplätzen der Stadt groß wurden und es später  in der Fußballwelt zu Ruhm und Ehre schafften. Auf dem überdimensionalen Portrait an der Hauswand sind drei Brüder verewigt, von denen einer immerhin Weltmeister, der andere ebenfalls Nationalspieler wurde und  der dritte inzwischen sogar in Musik macht. Und es wird daran erinnert, dass sie  „Gewachsen auf Beton“ sind. Da man sich erhofft, dass sich durch die Musik des ältesten dieser Brüder ein bisschen Wedding-Gefühl einstellt, darf er gerne erstmal als Soundtrack für unsere Forschungsexkursion   in den Wedding herhalten. Ob unsere Kovač-Brüder ebenfalls auf Beton gewachsen sind, das gilt es heute heraus zu finden. Folgt man nun der Pankstraße, so gelangt man allmählich mitten rein in diesen Wedding. Da man sich als Eintracht-Anhänger natürlich vorher etwas schlau gemacht  hat, wo denn nun genau die Wurzeln der Kovač -Brüder liegen, wurde der Leopoldplatz als geeigneter Ausgangspunkt auserkoren. Nachdem der  Leopoldplatz schließlich erreicht und gleich mehrere Male auf erfolgloser Parkplatzsuche   umkreist wurde, kommt es gezwungenermaßen zu einer kurzen  Planänderung, denn erst jenseits der Seestraße kann ein kostenloser Parkplatz, ohne Zeitbeschränkung gefunden werden. Das Auto wird also einen Steinwurf vom Schillerpark in einer Seitenstraße abgestellt, von nun an geht  es zu Fuß auf Wedding-Mission.

Und um die Anfänge der Fußballaktivitäten unser  Kovač –Brüder nachzuvollziehen, ist der Schillerpark sicher nicht die schlechteste Anlaufstelle. Hier sollen die Brüder Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre auf der großen Schillerwiese stundenlang  gekickt haben, wenn sie sich nicht gerade auf einem Bolzplatz in der Wohnsiedlung  auf der anderen Seite der Seestraße aufhielten.  Im Gegensatz zu den Boateng-Brüdern sind die Kovačs also nicht ausschließlich auf Beton sondern zum Teil auch auf Wiese gewachsen.  Wenn man von der Edinburger Straße   den Schillerpark betritt, schweift der Blick sofort über die weite Wiese. Es kommt einem fast ein bisschen befreiend vor, wenn man aus den dicht bebauten Wohnsiedlungen des Weddings heraus tritt und kurz den Blick in die Weite richten kann.  In der Ferne sticht eine dreistufige Terrassenanlage  aus Kalkstein ins Auge. Viele Menschen sind an diesem Werktag  vormittags, so gegen halb elf, noch nicht im Park unterwegs. Vereinzelt begegnen einem Jogger und Joggerinnen, die motiviert ihren Leibesertüchtigungen nachgehen. Und Hundehalterinnen und Hundehalter, jede Menge davon, kommen einem mit ihren vierbeinigen Gefährten entgegen. Wenn man in die Gesichter der Menschen blickt, drängt sich bei vielen der Verdacht auf, dass sie vielleicht älter aussehen, als sie tatsächlich sind. Die Gesichter zeugen von einem Leben, das sicher nicht immer auf der Sonnenseite stattgefunden hat und von einem Leben, welches immer wieder  Nackenschläge und harte Zeiten  bereitgehalten haben muss. Und es darf auch davon ausgegangen werden, dass sie außer  ihren Vierbeinern  kaum jemanden haben, dem sie von den Mühen ihres Lebens erzählen können.
Relativ still  ist es für so einen Park mitten in der Stadt. Lediglich Martinshörner durchbrechen  immer wieder die Ruhe. Direkt am Schillerpark liegt offenbar eine  Rettungswache, von wo aus die Notarztfahrzeuge im Minutentakt zu ihren Einsätzen ausrücken.

Der Vormittag hat den Park in ein seltsam-milchiges Licht getaucht. Fast scheint es so, als ob noch etwas Nebel über der Schillerwiese hängt. Es ist so ein November-Vormittag, an dem die Sonne und die Wolken da oben am Himmel gerade in harte Verhandlungen eingetreten  sind, darüber, was denn das heute für ein Tag werden wird. Soll es eher ein goldener Spätherbst-Tag werden oder doch ein trüber Frühwintertag. Noch lässt sich nicht sagen, wer sich in diesen Verhandlungen am Ende durchsetzen wird.

Am Rande der großen Wiese geht der Weg nun weiter, immer in Richtung dieser steinernen Terrassen. Man kommt an einem dieser berühmt-berüchtigten Fußball-Käfige des Weddings  vorbei, der allerdings an diesem  Vormittag ziemlich verlassen zwischen herbstlichen Sträuchern  steht. Wenn man sich von hinten den Terrassen nähert, gelangt man über eine Treppe zunächst auf die höchste Stufe. Von hier hat man einen tollen Blick über die große Schillerwiese. Man kann dort wunderbar auf der Mauer sitzen und sich vorstellen, wie da unten die kleinen Kovač-Jungs dem Ball nachjagen. Und sicherlich war der kleine Niko schon damals, zu Schillerwiesen-Zeiten, so eine Art Anführer der  Kicker da unten.

Eine herannahende Kitagruppe, die unter großem Gejohle den nahen Spielplatz stürmt, reißt einen schließlich aus diesen Tagträumereien. Aber man muss ja auch weiter, den Wedding erkunden. Wenn man die Treppen herunter steigt, steht man auf der mittleren Stufe der Terrassen dem für den Park namensgebenden Dichter gegenüber. Hier steht er in Bronze gegossen, dieser Schiller, dem ja nachgesagt wird, dass er eine durchaus innige Freundschaft mit einem Bub aus Frankfurter gepflegt haben soll. Dieser Schiller stand auch schon da oben, als die Kovač-Brüder unten auf dem Rasen Fußball spielten. Konzentriert, fast schon ein wenig streng blickt er von dort auf die Schillerwiese, gerade so, als ob er von dieser hervorragenden Sichtposition aus die nächste Generation der Super-Kicker aus dem Wedding scouten würde.

Der Legende nach muss es sich nämlich da unten auf der Wiese, irgendwann in den frühen 1980er Jahren zugetragen haben.  Der junge Niko kickte  mit seinem Bruder und noch ein paar anderen Jungs, wie so oft, auf der Schillerwiese. Dabei soll der wieselflinke, feine Techniker auf der Wiese,   einem Verantwortlichen vom ortsansässigen Fußballverein, dem SC Rapide Wedding  aufgefallen sein. Angeblich wurde  noch vor Ort nicht lange gefackelt  und Papa- Kovač, der zufällig auch vor Ort war, soll nachdrücklich gebeten worden sein, mit seinem Niko mal zum Training der Jugendmannschaft von Rapide Wedding vorbei zu kommen.  Mate Kovač, zögerte nicht lange und brachte neben Niko auch gleich den etwas jüngeren Robert mit zum Training. Von da an nahm die Fußball-Geschichte der Kovač-Jungs ihren Lauf. Die überragenden Schillerwiesen-Kicker und Bolzplatz-Größen Niko und Robert waren im Vereinsfußball angekommen.

Und an dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs zum ersten Fußballverein der Kovač-Brüder erlaubt:
Der Sport-Club Rapide Wedding  war ein Berliner Traditionsverein, mit langer, bewegter Geschichte. Man spielte über Jahrzehnte im gehobenen Berliner Fußball und nahm u.a. in den 1970er Jahren zwei Mal an der Hauptrunde des DFB-Pokals teil. So scheiterte Rapide beispielsweise in der DFB-Pokalsaison 1975/1976 mit 2:9 am VfB Stuttgart, obwohl man bis zur 30. Spielminute sogar mit 2:0 führte. Die Stuttgarter waren damals unter anderem mit so bekannten Namen wie Helmut Roleder, Willi Entenmann, Egon Coordes , Dieter Brenninger und einem gewissen Ottmar Hitzfeld in den Wedding gereist. Beim kurzen Einlesen in die Geschichte des SC Rapide Wedding stößt man unter anderem auf die Information, dass der heutige Bundesligaschiedsrichter Manuel Gräfe und unser Robert Kovač in der Jugend von Rapide Mannschaftskollegen waren.  Hoffentlich bekommen wir den Herrn Gräfe nun regelmäßig als Schiri-Ansetzung, weil man ja keine Ex-Mitspieler verpfeift, und schon gar nicht solche, mit denen man eine Vergangenheit im Wedding teilt.

Man  stößt aber  überraschenderweise  auf eine weitere Spur, die Rapide Wedding mit  Eintracht Frankfurt verbindet. Denn die Kovač-Brüder sind nicht die ersten, die für Eintracht Frankfurt tätig waren und deren Stammverein der SC Rapide Wedding  ist. Ein gewisser Heinz Gründel stammt  ebenfalls aus dem Wedding und spielte erstmals auf Vereinsebene für den SC Rapide.  Und diese Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Auch der Gründel hat  mit der Eintracht  einstmals die Relegation erfolgreich überstand und dann durchaus Anteil am folgenden Aufschwung gehabt.  Es waren die Zeiten, als in Frankfurt der Begriff  „Fußball-2000“ erstmals die Runde machte. Und da sage noch jemand „Geschichte wiederholt sich nicht“. Die Verbindung Wedding-Frankfurt scheint jedenfalls  unter keinem so schlechten Stern zu stehen.
Leider gibt es den SC Rapide in seiner ursprünglichen Form heute nicht mehr, da man zu Beginn des neuen Jahrtausends mit dem SV Nord-Nordstern zum SV Nord Wedding fusionierte. Dieser Verein konnte nicht an frühere Erfolge anknüpfen und kickt inzwischen in der Kreisliga B. Immerhin führt man aber Tagesaktuell die Tabelle an und hofft  am kommenden Wochenende die Tabellenführung gegen den SC Westend 01 II weiter ausbauen zu können.  

Aber nun zurück zu unserem Kurztrip in den Wedding, denn wir  wollen ja weiter. Der Weg geht weiter durch den Schillerpark. Über dem  Norden des Parks donnern in enger Taktung die Maschinen, die sich in geringer Höhe im unmittelbaren Landeanflug auf TXL befinden.  Das Fahrwerk haben diese Maschinen längst   ausgefahren, von hier aus mögen es gut und gerne noch 2000 Meter Luftlinie bis zur Landebahn in Tegel sein. Der Fußballplatz am Rande des Schillerparks  -  übrigens ein gepflegter Kunstrasenplatz, der offensichtlich täglich vom herumwirbelnden Herbstlaub befreit wird – liegt zu dieser Zeit noch ruhig und unberührt zwischen Bäumen. Sportplatz Ungarnstraße wird die Anlage offiziell genannt.
Dieser Sportplatz ist übrigens die Heimspielstätte des BFC Meteor 06. Unrühmliche Aufmerksamkeit erlangte dieser Verein durch einen Vorfall bei einem Spiel seiner dritten Mannschaft im Jahre 2015. Aber sportlich gibt es über den  BFC Meteor 06 auch schöne Sachen zu berichten.  Denn ein Welt- und Europameister lernte hier das kicken, „Icke“ Häßlers erster Fußballverein war der BFC Meteor, also ein weiterer großartiger Fußballer aus dem Wedding.

Vom Sportplatz Ungarnstraße hört man   den tosenden Verkehrslärm, der von der nahen Seestraße herüber schallt. Diese Seestraße ist im „mittleren Norden“ von Berlin eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen. In östlicher Richtung wird sie bald zur Osloer Straße und später zur Bornholmer Straße und führt in den Prenzlauer Berg. In der anderen Richtung wird sie jenseits des Westhafens zur A100, der Berliner Stadtautobahn. Dementsprechend hoch ist hier das Verkehrsaufkommen. Die Straßenüberquerung ist daher eine herausfordernde Angelegenheit. Man benötigt an der Fußgängerampel mindestens zwei, eher drei Grünphasen, um wirklich von einer Straßenseite auf die andere zu gelangen,  denn neben den jeweils zwei Fahrspuren in jede Richtung, verläuft in der Mitte der Straße auch noch die doppelgleisige Tram. Aber es hilft nix, wir müssen da rüber, um weiter auf den Spuren der Kovač-Jungs zu wandeln.  Wenn man nun, nach erfolgreicher Überquerung  der Seestraße einige Meter in südwestlicher Richtung folgt, die Einmündung der Malplaquetstraße links liegen lässt, steht man plötzlich an der Straße, in der die Familie Kovač in den 70er und 80er Jahren gelebt hat, der Turiner Straße. Man bleibt fast etwas ehrfürchtig an der Fußgängerampel unter dem Straßenschild stehen, schüttelt sich dann aber kurz, man will ja schließlich keinen Star-Kult betreiben und als das Ampelmännchen auf grün schaltet, biegt man ein in die Straße, die die Kovač-Brüder unzählige Male rauf und runter gelaufen sein müssen.  

Der erste Eindruck: Eine typische Berliner Seitenstraße in einem Wohngebiet. Die Häuser gehen auf beiden Seiten bis in der 5. Stock hoch, beige ist die dominierende Farbe der Fassaden und obwohl es eine Seitenstraße ist, wirkt sie kein bisschen beengend, denn die Städteplaner haben glücklicherweise dafür gesorgt, dass ordentlich Platz ist zwischen den Häuserfassaden auf beiden Straßenseiten. Da ist ausreichend Platz für eine Straße mit Verkehr in beide Richtungen, da ist Platz für jede Menge Parkplätze  auf beiden Straßenseiten (von denen übrigens restlos alle belegt sind) und da ist auf beiden Straßenseiten sogar noch Platz für einen breiten Gehsteig. Diese Turiner Straße wirkt also durchaus einladend an diesem November-Morgen und ermuntert einen, in sie hinein zu  schlendern.  Am Himmel über dem Wedding sieht es inzwischen übrigens ganz danach aus, als hätte sich die Sonne durchsetzen können und es läuft alles auf einen freundlichen Spätherbsttag hinaus. Auch diese Tatsache macht Lust darauf, diesen Wedding weiter zu erkunden. Auf beiden Seiten der Straße also typische Berliner Wohnsiedlungsbauten: Man gelangt durch das Eingangstor an der Straße durch einen Durchgang auf einen begrünten, teils mit hohen Bäumen bewachsenen Hinterhof, von wo aus man weitere Wohneinheiten oder gar weitere Hinterhöfe erreicht. Gut vorstellbar, dass auch diese Hinterhöfe von fußballverrückten Jungs Ende der 70er, Anfang der 80er dazu genutzt wurden, um ihrer Leidenschaft auf engem Raum nachzugehen.

Auf dem Weg, weiter die Turiner Straße hinunter gibt es vor einem Laden plötzlich Aufregung mit kleinerer Rudelbildung. Der Fahrer eines LKW, der offensichtlich diesen Laden mit frischer Ware beliefert, hat den Warnblinker gesetzt und macht sich mit Gelassenheit ans Entladen. Dies führt nach kurzer Zeit zu einem kleinen Rückstau, denn so viel Platz bietet die Turiner Straße dann doch nicht, dass man da so ohne weiteres an einem mittelgroßen LKW beim Entladen vorbei fahren kann.  Nach wenigen Sekunden schallt die erste Hupe durch die Turiner Straße. Das Hupen wird ca. fünf Mal in geringen Zeitabständen wiederholt und jedes Mal dauert das Hupsignal etwas länger. Schließlich steigt ein älterer Mann aus seinem grauen Kia Ceed, der in erster Reihe in diesem kleinen Rückstau steht. Graue Haare, graue Hose, graue Jacke, Brillenmodell aus den Zeiten, in denen die Kovač-Jungs noch in der Straße wohnten. Eigentlich fehlt nur die Herrenhandtasche am Handgelenk, um das Bild abzurunden, aber die liegt bestimmt irgendwo im grauen Kia Ceed. Der Kia-Ceed-Opa brüllt sofort los: „Sach ma, du kannst doch hier nich die Straße einfach dicht machen und in aller Ruhe ausladen!!!“ Erwiderung des LKW-Fahrers. „Ick kann det jetz hier nich ändern, ick bin in weniger als sieben Minuten weg.“ Daraufhin der Kia-Ceed-Opa nicht mehr wirklich brüllend, aber immer noch laut genug, dass die Turiner Straße mit hören kann: „Pass ma uff, ick hab mit meiner Frau um zwölf ein Fußpflege-Termin in Reinickendorf, wat globst du, wat mir mein Madamchen  für’ne Szene macht, wenn wir da nich  pünktlich einmar.schieren?“ Antwort des LKW-Fahrers  (achselzuckend): „Wie gesagt, ick bin hier gleich weg.“ Daraufhin der Kia-Opa (wieder fast schon brüllend): „Ick glob det jetz nich, det kann doch nicht wahr sein!!!“. Inzwischen ist ein weiterer Kraftfahrer ausgestiegen und gesellt sich zu dem schimpfenden  Kia-Opa. Es ist ein junger Mann, vermutlich mitte-ende zwanzig, offensichtlich türkischer oder arabischer Abstammung, stattliche Erscheinung, dicke Jacke, gepflegter Vollbart, dazu schwarz-silberne  Trucker-Cap. Er fährt eine edle Limusiene, schwäbischer Bauart mit extrem getönten Scheiben und eindrucksvollen Felgen. Er geht beschwichtigend auf den Kia-Opa zu: „Ey das geht hier jetzt auch nicht schneller, wenn du rum schreist, bleib mal ganz locker.“ Als Beobachter dieser Situation möchte man gerne mit bekommen, wie das hier jetzt weiter geht. Andererseits  will man aber auch nicht wie ein Gaffer stehen bleiben. Also geht man weiter, behält die Szene aber weiterhin im Augenwinkel. Der Kia-Opa und der Trucker-Cap-Araber kommen ins Gespräch. Leider ist man nicht mehr nahe genug dran, um wirklich zu verstehen, was geredet wird.  Es ist auf jeden Fall ein äußerst angeregtes, aber kein feindseliges Gespräch. Nach weniger als fünf Minuten hat schließlich der LKW-Fahrer sein Entladen beendet und gibt die Strecke wieder frei. Es kommt zum Hand-Shake zwischen dem Kia-Opa und dem Trucker-Cap-Mann, sogar ein freundlicher Schulterklopfer ist zum Abschied dabei und alle besteigen ihre Fahrzeuge und fahren ihrer Wege. Viel Lärm also, aber alles halb so wild, man kann getrost die Turiner Straße weiter runter laufen. Die „Taverna Hellas“ hat noch geschlossen, macht aber den Eindruck, als ob man dort während der Öffnungszeiten eine grundsolide  Grillplatte mit Pommes und reichlich Tzatziki bekommen kann. Die Stromkästen in der Turiner Straße wurden   von achtsamen Anwohnern, mit possierlichen Katzen-Bildern verschönert. Ziemlich am Ende der Straße wird aus Norden kommend auf der linken Seite die Fassade an einem Haus neu verputzt. Eine ältere Bewohnerin kehrt gerade, schwer bepackt mit Einkäufen zurück. Sichtlich erfreut über den Baufortschritt tätschelt sie einem der Arbeiter die Wange und sagt „Ach mein Freund, det habt ihr aber schön jemacht.“  Sieh mal einer an, dieser Wedding kann auch ganz schön herzlich, es menschelt hier mehr, als man auf den ersten Blick denken mag. Der Bauarbeiter lächelt verlegen,   offensichtlich hinderte ihn aber die Sprachbarriere daran, eine passende Antwort zu formulieren. Die Bewohnerin stört sich daran nicht. Eine weitere Bewohnerin betritt den Eingang und begrüßt die andere Bewohnerin: „Lange nicht jesehen, wie jeht's uns denn?“ Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Bescheiden, beschissen jeht’s einem, aber nützt ja nüscht, da müssen wa jetzt durch, bald is ja Weihnachten und dann ham wa det Jahr auch wieder jeschafft.“ Beide Frauen lachen darauf herzlich. Ein paar Meter weiter die gleiche Frage zwischen zwei älteren Männern: „Na wie jehts denn so?“ Antwort: „Beschissen wäre jeprahlt, wa?“  Auch hier wieder Gelächter. Im Wedding wird offensichtlich gerne mit dem eher mäßigen Befinden kokettiert. Zumindest aber wird hier nicht  mit einem floskelhaften  „ganz gut“ auf die Frage „Wie geht’s?“, geantwortet, wie das  andernorts so üblich ist, selbst wenn es einem eigentlich beschissen geht.  

Man geht nun noch wenige Schritte und dann ist man auch schon durch, durch die Turiner Straße im Wedding. Puh, kurz durchatmen.
Beim Verlassen der Straße fällt der Blick sofort auf die nahegelegene Neue Nazarethkirche. Rund um diese Kirche ist etwas städtischer Freiraum vorhanden. Einen metallenen Basketballkorb gibt es dort, einige Bänke laden zum Verweilen ein. Dieses Angebot wird  vor allem von älteren Männern genutzt. Sie treffen sich dort offensichtlich häufiger zur Mittagszeit auf 3 bis 8 kühle Sternburg Export. Im Schatten der Neuen Nazarethkirche dann wieder so ein Weddinger Fußball-Käfig. Es ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass dieser Fußball-Käfig schon zu den Zeiten da war, als die Kovač-Jungs hier noch umher tollten, aber wenn er damals schon dort gestanden hätte, dann wären der kleine Niko und der kleine Robert hier sicher die Platzhirsche gewesen.

Nachdem man nun also eine Runde um die Kirche gedreht hat, macht man sich auf zum nahegelegenen Leopoldplatz, vorbei an der Alten Nazarethkirche. Man kommt immer wieder an Bänken vorbei, auf denen Männer sitzen deren Gesichter davon erzählen, dass ihr Leben ein ständiger Kampf um ein bisschen Glück gewesen sein muss. Und vielen ist anzusehen, dass dieser Kampf oft genug ein aussichtsloser war. Mit trüben Blicken welken sie hier vor sich hin, lediglich die   Flasche Oettinger  (wahlweise auch  Kindl oder Sterni) in der Hand, scheint ihnen etwas Halt zu geben. Am Leopoldplatz sind schon einige Weihnachtsmarkt-Buden aus weißen Brettern aufgestellt, auch wenn der eigentliche Weihnachtsmarkt  hier erst am 3. Adventswochenende steigt. Flammkuchen, Glühwein und gebrannte Mandeln kann man jedenfalls schon heute erwerben.

Der erste Gedanke, wenn man den Leopoldplatz erreicht hat:  Ganz schön was los hier!  Hier kreuzen sich die Müller- und die Schulstraße, die in ihrem weiteren südwestlichen Verlauf ab hier zur Luxemburger Straße wird. Dementsprechend herrscht hier Verkehr und zwar von allen Seiten. Aber auch auf den Gehwegen ist einiges los. Großstadtlärm von allen Seiten, überall Leute, sehr unterschiedliche Leute. Eine bunte Mischung aus allem. Bei den Frauen sind Kopftücher ein beliebtes Accessoire, die Jungs und Männer unter 30 Jahren bevorzugen Baseball-Kappen.  Die Bevölkerung soll sich neben den Menschen ohne Migrationshintergrund vor allem aus Menschen zusammensetzen, deren Vorfahren aus der Türkei stammen. Aber auch Menschen mit arabischer, afrikanischer, osteuropäischer Abstammung prägen das Stadtbild im Kiez. Und natürlich Leute mit dem „Balkan-Gen“.  All das wird   hier am Leopoldplatz, oder am „Leo“ wie ihn die einheimischen nennen, auf den ersten Blick deutlich. Aber auch zahlreiche junge Menschen, die man dem ersten Eindruck nach in die Kategorie Stundeten einordnet sind unterwegs, die vermutlich aus Böblingen, Siegburg oder Neustadt am Rübenberge zugezogen sind, weil die Mieten hier im Wedding noch nicht in diesen abgehobenen Sphären wie in Kreuzberg, Friedrichshain oder Mitte schweben.

Einen Steinwurf weiter das Rathaus-Wedding. Gegenüber, an einer dieser zahlreichen fensterlosen Brandwände, die es im Wedding  irgendwie viel häufiger zu geben scheint als andernorts, steht hoch oben, in überdimensionalen Buchstaben ein schlichter Satz geschrieben: HARTS 4 ESSEN SEELE AUF! Ob der Nachname des Erfinders der „Agenda 2010“ hier versehentlich falsch geschrieben wurde oder ob es sich um einen Kunstgriff handelt ist schwer zu beurteilen. So oder so scheint der Satz  ein prägendes Lebensgefühl im Wedding  irgendwie treffend zu beschreiben. Leider macht die genau über der Dachkannte stehende Novembersonne ein ordentliches Foto unmöglich, aber das Internet verschafft ja Abhilfe.

Da sich inzwischen Hunger eingestellt hat und dringend ein Ort gesucht wird, um diese Flut von Eindrücken irgendwie erstmal geordnet zu bekommen, wird am Leo nach einem Imbiss oder einem Restaurant gesucht. Die Wahl fällt auf das Pamfilya, ein Döner-Restaurant, und beim Betreten weiß man sofort, dass das die richtige Wahl war. Schlichte, funktionale Tische und Stühle, solide Einrichtung und ein Platz mit Blick auf das bunte Treiben da draußen rund um den Leo ist auch noch frei. Man wird richtig freundlich begrüßt. Schnell ist ein Döner bestellt und prompt bekommt man unaufgefordert einen türkischen Tee hingestellt. Dieser warme Tee tut gut und ist genau das richtige, um die Impressionen des Weddings erstmal sacken zu lassen.

Hier kommen sie also her diese Kovač-Brüder, denkt man, die Kovač-Brüder  die inzwischen so weit weg vom Wedding leben und arbeiten. Und auch wenn sie längst raus gezogen sind, in die große Fußball-Welt: Sich vorzustellen, dass so eine Kindheit hier im Wedding prägend ist und für immer Einfluss auf das Leben hat, egal wie weit weg vom Wedding man inzwischen lebt, dafür bedarf es keiner allzu großen Phantasie. Und eines  ist auch  klar: Falls es irgendwo  eine Profi-Fußballverein mit einem Spielerkader mit Spielern aus 17 verschiedenen Nationen geben sollte, dann sollte dieser Profi-Fußballverein tunlichst alles dafür tun, dass er einen Trainer für diese Spieler bekommt, der hier im Berliner Wedding aufgewachsen ist. Wer hier groß wird, der saugt vom ersten Atemzug kulturelle Vielfalt auf. Für den ist Vielfalt Heimat und vermutlich sogar so normal, dass man darüber  gar nicht viele Worte macht. Man darf sich jedenfalls sicher sein, dass es für einen Bundesliga-Trainer, der hier groß geworden ist, keine Phrase ist, wenn er Internationalität im Kader nicht als Problem sondern als Bereicherung, als fruchtbare Gegebenheit beschreibt, in der alle voneinander lernen. Miteinander leben, sich aneinander reiben und voneinander lernen. Im Wedding bleibt einem  praktisch gar nix anderes übrig. Und ja, dieser Wedding zwingt einen förmlich dazu, dass Leben zu lernen. Was man hier  sieht,   das reicht nicht für irgendwelche wilden Ghetto-Phantasien, nein, dafür ist das da draußen alles fast ein bisschen zu bieder. Aber eines ist auch klar: Mit Ferien auf Immenhof und Kinder von  Bullerbü hat so eine Kindheit im Wedding vermutlich wenig zu tun. Der Wedding scheint neben zahlreichen liebenswerten Charakterzügen auch eine schlitzohrige, eine gerissene, vielleicht sogar eine hinterhältige Seite zu haben. Der Wedding ist keine Pussy, kein Ort für Weicheier. Da draußen, zwischen all den Spielhallen, Wettbüros, Spätis und den verruchten Hinterhöfen, da sind sicherlich  genügend  Fallen aufgestellt, die heranwachsende Jungs und Mädchen an allen Ecken dazu verleiten können, in ihrer Biographie die falschen Abbiegungen zu nehmen.

Während man diesen Gedanken nachgeht,   meint man eine leise Ahnung davon zu bekommen, was die Eltern der Kovač-Brüder, also der Zimmermann Mate Kovač und seine Frau, für hoch anständige, tüchtige  Leute sein müssen. Sie haben es geschafft, hier in diesem Umfeld ihren Jungs auf der einen Seite das nötige Selbstbewusstsein mit zu geben, damit sie in diesem rauen, von harten Jungs geprägten Kiez bestehen konnten und auf der anderen Seite haben sie ihren Jungs Tugenden wie Ehrgeiz, Disziplin, Hingabe und Genauigkeit vermittelten, von denen sie noch heute profitieren, die ihre Triebfedern in ihrem Trainerjob bei Eintracht Frankfurt sind  und ohne die sie vermutlich niemals diese Karriere als Profi-Fußballer und derzeitige Wundertrainer hätten hinlegen können. Und wenn man dazu noch bedenkt, dass es vor allem auch die zwischenmenschlichen Werte sind, die die Kovač-Eltern ihren Jungs Niko und Robert vorlebten und vermittelten, wenn Niko Kovač heute beispielsweise davon spricht, dass er in Sachen Mannschaftsführung versucht „Mensch zu sein“, dann bleibt einem nur zu sagen: Hut ab Mate Kovač und eine mindestens genau so tiefe Verbeugung vor seiner Frau.  Was die  Kovač-Eltern da geleistet haben, ist aller Ehren wert, denkt man so vor sich hin.

Inzwischen wird der Döner gebracht und der junge Mann, der ihn bringt blickt auf die Zettel und den Stift, welche  auf dem Tisch liegen und fragt grinsend: „Na noch schnell Hausaufgaben machen?“  Der junge Mann macht es einem leicht, schnell in ein witziges Gespräch zu kommen. Wie sich später raus stellen soll heißt er Serdar und kommt offensichtlich aus dem Wedding. Und dieser Serdar kommt einem schnell auf die Schliche, da er fragt: „Du kommst nicht von hier, oder?“ Eine Frage,   mit der man vermutlich in irgendeiner Seemannskneipe an der mecklenburgischen Küste rechnen würde, aber nicht hier im Wedding. Aber dieser Serdar scheint ein feines Gespür für die Leute zu haben. Und obwohl man sich vor dem Ausflug in den Wedding ausdrücklich vorgenommen hat, hier keine Leute mit pseudo-journalistischen Fragen voll zu quatschen, weil man zum einen kein Journalist ist und weil man zum anderen das ganze einfach auf sich wirken lassen wollte, erzählt man diesem ab dem ersten Moment sympathischen und vermutlich auch ganz schön schlitzohrigen Serdar, dem man ansieht dass er den Wedding kennt und dass er das Leben hier beherrscht, dann doch ziemlich schnell, warum man hier ist. Serdars grinsende,  entwaffnende Anmerkung dazu: „Krass Mann, du bist hier, weil du mal gucken willst wo so ein Fußball-Typ herkommt. Bist du ein Groupie oder so?“ Gute Frage denkt man dann. Ist man eigentlich schon ein Groupie, wenn man mal nachsehen will, wie es da so ist, wo die Kovač-Brüder herkommen. Irgendwie fühlt man sich ertappt von diesem Serdar. Dieser meint jetzt: „Iss mal deinen Döner jetzt.“ Der Döner ist so, wie ein richtig guter Döner sein muss: Das Fleisch stammt von einem Grillspieß, auf dem wirklich noch Fleischlappen übereinander gesteckt werden (nicht so eine Keule aus Brät, in der alle möglichen Fleischabfälle verwolft werden), die Sauce ist noch eine echte Döner-Sauce auf Joghurtbasis, mit echtem Knoblauch (keine Majo-Basis, keine Geschmacksverstärker) und der Salat ist auch top und hält sich in dieser Döner-Tasche angenehm im Hintergrund. Zwischenzeitlich hat Serdar einen neuen Tee gebracht  und unterhält sich gerade draußen auf der Straße mit einem Bekannten, der offenbar zufällig vorbei kam.
Dann kommt er zurück in den Laden und räumt meine Teller ab. Man kommt wieder ins Gespräch. Und wenn dieser Serdar einem schon auf den ersten Blick ansieht, dass man nicht von hier kommt, dann traut man sich zumindest ihn zu fragen, oder er denn aus dem Wedding kommt.  Seine Antwort: „Ja Mann, der Wedding ist meine Heimat.“ Er sagt das mit Stolz in der Stimme. Er berichtet, dass er mal ein Jahr in Schöneberg war, es dort aber nicht ausgehalten hat und dass er einfach zurück musste. Er sagt Sätze wie: „Hier labert dich keiner voll, hier kannst du dein Ding machen.“  Und einen bemerkenswerten Satz sagt er dann auch noch (und der ist ohne Mist nicht ausgedacht!): „Viele finden den Wedding abgefuckt, kaputt und das is ja auch so, aber für mich ist das meine Heimat, hier sind die Straßen aus Gold.“  Die insgesamt drei türkischen Tees, die  Serdar brachte werden wie selbstverständlich nicht berechnet, Döner für 4,50€ ist für Berliner Verhältnisse stattlich aber wenn man ehrlich ist, war er jeden Cent wert. Als man zurück auf den Leo tritt, ist man fast ein bisschen überwältigt von der Begegnung mit Serdar, da man nicht damit gerechnet hätte, dass man auf diesem Ausflug hier solche Sätze, wie die von Serdar   zu hören bekommt. Sätze von denen man sich zumindest einbildet, dass sie ein bisschen tiefergehend das  Lebensgefühl des  Weddings vermitteln, Sätze, die man sich selbst niemals  hätte ausdenken  können, wenn man versucht hätte, diesen Kiez zu beschreiben.

Wieder draußen an der frischen Luft entscheidet man sich, noch mal in Richtung Turiner Straße zu laufen und denkt dabei natürlich  an die Frage von Serdar „Bist du ein Groupie oder so?“. Eine überaus berechtigte Frage eigentlich, wenn man da mal genauer drüber nachdenkt,  ein wenig verrückt ist es definitiv, was man hier gerade macht. Es gab zumindest noch niemals irgendwann einen Cheftrainer bei der Frankfurter Eintracht, bei dem man sich gefragt hat, wie und wo der wohl seine Kindheit verbracht hat. Das war noch nie von Interesse. Ziemlich verrückte Zeiten. Entweder dreht man als Eintracht-Fan gerade komplett ab, oder die Kovač-Brüder vollbringen nicht nur Wunderdinge mit ihrer Mannschaft, sondern haben auch noch die Fans verzaubert. Nicht auszuschließen, dass es eine Mischung aus allem ist. Es könnte einem fast etwas unheimlich werden.

Und dann läuft man sie noch einmal ab, die Turiner Straße, diesmal aus der anderen Richtung, von unten nach oben. Man denkt darüber nach, was das eigentlich für eine geile Geschichte ist, dass ein Junge aus der Turiner Straße hier im Wedding es tatsächlich mal geschafft hat, später als Fußballer das Trikot von Juventus Turin zu tragen und in dieser Mannschaft gemeinsam mit Leuten wie Gianluigi Buffon, Giorgio Chiellini, Pavel Nedved oder Alessandro Del Piero spielte. Man saugt sie noch mal auf, die Eindrücke der Turiner Straße. Immer wieder fallen einem diese fensterlosen Brandwände ins Auge. Und wie immer in diesem Berlin, wenn irgendwo eine freie Fläche zur Verfügung steht, wird Kunst daraus gemacht. An der Kreuzung Turiner-Amsterdamer-Straße  - Juve trifft auf Ajax schießt es einem kurz durch den Kopf - gibt es den  „Mini Markt“. So ein Laden, der in Berlin auch Späti genannt wird und wo man im Zweifel auch alle  lebenswichtigen Dinge, also in erster Linie Bier, nach Ladenschluss bekommt, wobei Ladenschluss in Berlin ja ohnehin eher seltener vorkommt als in anderen Städten. Auf der Tafel vor dem Mini Markt steht geschrieben „Hier gibt’s warmen Kaffee“. Dieses Angebot ist in diesem Moment  zu verlockend, um den Mini Markt nicht zu betreten.

Auch eine ältere Frau hat offensichtlich ähnliche Pläne.  An der Leine hat sie aber einen kleinen Hund, etwa kaninchengroß, der dieses Vorhaben noch nicht wirklich gut findet. Er möchte nicht, oder vielleicht kann er auch altersbedingt einfach nicht mehr  die wenigen Stufen hinauf steigen. Die ältere Frau wird an dieser Stelle   bewusst nicht als  „Älterer Dame“ bezeichnet, da diese ältere Frau aus dem Wedding vermutlich gereizt reagiert hätte, wenn man sie z.B. mit „gnädige Dame“ angesprochen hätte. Gut vorstellbar, dass sie kurz aus der Haut gefahren wäre und gesagt hätte: „Hören se ma junger Mann, ick bin keene Dame. Ick bin ne sehr patente Frau hier aus dem Wedding. Und det sage ick nich ohne Stolz. Ick hab hier mehr erlebt, als sie sich vielleicht vorstellen können. Ick bin so ziemlich allet, aber ick bin keene Dame! So wat möchte ick nich noch mal hören. Hamwa uns da verstanden?.“ Jedenfalls möchte der Hund nicht die Stufen rauf. Die ältere Frau ist darüber nicht erfreut und ruft mit ihrer rauer Stimme, die an Katharina Thalbach erinnert:  „Mann Gismo, komm jetzt!“  Gismo macht keinerlei anstalten. Die patente, ältere Frau aus dem Wedding flucht etwas vor sich hin und packt ihren Gismo dann und trägt ihn wenig zärtlich die zwei Stufen nach oben. Nachdem sie beide den Laden betreten haben ruft sie sofort mit ihrer Katharina-Thalbach-Stimme durch den Laden: „Eine Bockwurst!“. Der Mann hinter der Laden-Theke könnte dem ersten Eindruck nach „Balkan-Gene“ in sich tragen, ob es wirklich so ist, lässt sich nicht  klären. Er erwidert promt: „Senf? Ketchup?“ Daraufhin die ältere Frau sehr entschlossen: „Senf!“ Antwort des Mannes hinter der Theke: „Eins-achzig“.  Man denkt: Geil! Ein Gespräch, welches sich auf die wesentlichen Informationen beschränkt, die für dieses da ablaufende Geschäft notwendig  sind. Nix mit „Guten Tag“,  „Danke“,  „Bitte“ oder so. Vielleicht war es genau diese Art von Kommunikation die Serdar vorhin meinte, als er sagte „Hier labert dich keiner voll“.  Die ältere Frau kramt inzwischen ihr Geld hervor und bezahlt passend. Kurze Zeit später erhält sie ihre Bestellung und platziert sich an einem der beiden Stehtische um ihre Bockwurst zu genießen. Aus dem Augenwinkel lässt sich beobachten, dass Gismo – mit dem die ältere Frau mit der Katharina-Thalbach-Stimme  unentwegt spricht - auch was von der Bockwurst hat. Man bestellt einen großen Kaffee zum Mitnehmen. Dieser wird sofort abgefüllt und mit einem Deckel versehen. „Eins-vierzig!“  Auf die Frage: „Habt ihr Milch?“ Postwendende Antwort: „Nee, nur Kaffeesahne. Ein oder zweimal?“ Hm ach so, danke, „Einmal reicht!“ Also wird einmal Kaffeesahne in den Pappbecher gegossen.  Eins-vierzig wird ebenfalls passend bezahlt, man sagt aus Gewohnheit „Danke, Tschüss, schönen Tag  noch.“ Antwort: „Tschüss.“  Man tritt wieder auf die Turiner Straße und freut sich, dass die Hände durch den heißen Kaffeebecher etwas gewärmt werden.

Kurze Zeit später ist wieder die vor sich hin tosende Seestraße erreicht. Der Plan eine Abkürzung über den städtischen Urnenfriedhof zu nehmen, scheitert grandios, da zwar alle Tore an der Südseite, also zur Seestraße hin, offen sind, aber alle Tore auf der Nordseite, zur Ungarnstraße abgeschlossen sind. Über die Friedhofstore zu klettern wird als zu pietätlose Option angesehen. Dann also doch einmal außen rum um den weitläufigen Friedhof und zurück in den Schillerpark. Vorbei am BFC Meteor 06 Sportplatz, der inzwischen offensichtlich zu Schulsportzwecken genutzt wird. Jedenfalls tobt  eine große Anzahl von  Kindern im Grundschulalter schreiend und jauchzend über den Kunstrasenplatz. Inzwischen sind noch mehr Hunde als vorhin im Schillerpark unterwegs. Auf der großen Schillerwiese jagen sie den  unterschiedlichsten Wurfgeschossen nach, welche von ihren Herrchen und Frauchen abgefeuert werden. Und da noch etwas Zeit zur Verfügung steht, wird eine freie Parkbank aufgesucht um noch mal über diesen Wedding nachzudenken. Die Sonne über dem Schillerpark hat jahreszeitlich bedingt nicht mehr genügend Kraft, um wirklich Wärme auszustrahlen aber immerhin wirft sie ein freundliches Licht auf den Wedding. Der Kaffee mit einmal Kaffeesahne drin ist keine Offenbarung aber auch nicht so schlimm wie befürchtet. Und angenehm warm ist er auch noch. Es lässt sich also noch ein wenig aushalten hier an der großen Schillerwiese.

Und während  man die Eindrücke der letzten ca. 2,5 Stunden noch mal revuepassieren lässt versucht man diesen Wedding mit passenden Adjektiven zu versehen. Eigentlich ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist, denn der Wedding lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes einfach nicht fassen. Alle folgenden Beschreibungen lassen  sich vermutlich irgendwie auf einmal auf den Wedding anwenden ohne dass es schizophren ist: dreckig, echt, durchtrieben, bunt, kriminell, ungeschminkt, unterschätzt, missachtet, undurchdringlich, geliebt, herzlich, kaputt,  schön, furchtbar, im Aufbruch, verwegen, authentisch, am Ende, spießig, abgefuckt, spannend, bieder, pulsierend, heruntergekommen, im Kommen, grau.

Touristen, die auch zu dieser Jahreszeit zu tausenden nach Berlin kommen, sind hier im Schillerpark nicht anzutreffen. Kein Rollkoffergeklapper, keine geführten Segway-Touren und abends vermutlich auch keine organisierten Pub Crawls durch die Schultheiss-Kneipen. Der Wedding hat auf eine angenehme Art so gar nix von dieser Überdrehtheit, die andere Stadtbezirke der Hauptstadt prägt.  Wie gesagt: Der Wedding scheint ein raues Pflaster zu sein. Und sicher auch kein  Hort der Glückseligkeit. Aber er scheint eine ehrliche Haut zu sein, dieser Wedding. Er macht einem nix vor. Er stellt nix dar, was er in Wirklichkeit nicht ist. Hier wird nicht versucht eine Fassade zu wahren, die es nicht gibt. Auf Höflichkeits-Floskeln wird hier in der Sprache weitgehend verzichtet. Und doch sind die Leute aus dem Wedding ständig auf der Suche nach zwischenmenschlicher Wärme. Es menschelt an allen Ecken, es ist nur nicht immer so offensichtlich, wie bei der Bewohnerin in der Turiner Straße, die so erfreut ist über den Baufortschritt an der Häuserwand, dass sie dem Bauarbeiter die Wange tätschelt und dieser, obwohl er kein Wort versteht, sofort weiß, was sie sagen möchte. Oft ist das "Menschelnde" hier etwas subtiler, aber es ist da. Warum sonst geht die ältere Frau mit ihrem Hund Gismo im „Mini-Markt“ unter den Leuten eine Bockwurst essen und macht sich nicht etwa eine  Discounter-Wurst in den eigenen vier Wänden warm? Warum sonst ließe  sich der Kia-Opa von dem jungen Trucker-Cap-Araber beschwichtigen, obwohl er zuvor  aus Furcht, dass ihm sein „Madamchen“ Stress macht, wenn er sie nicht pünktlich zum Fußpflege-Termin chauffiert, in der Turnier Straße wild darauf los schimpfte. Und nicht zuletzt: Warum kann Serdar einem in dem Döner-Restaurant auf den ersten Blick  ansehen, ob man  aus dem Wedding kommst oder nicht? Und vor allem wie schafft er es auf seine sympathisch, schlitzorige Art, mit wenigen Sätzen, fremden Leuten den Spiegel so vor zu halten,  dass die sich  plötzlich über sich selber wundern. Das alles würde nicht stattfinden, wenn dieser Kiez nicht auch eine überaus menschliche Seite hätte.  Der Wedding mag ein  gerissener Hund sein,  aber er ist nicht  „hintenrum“. Hier wird dir nicht das Blaue vom Himmel versprochen. Die Schultheiss-Kneipe am Schillerpark heißt nicht etwa „Zur schönen Aussicht“ oder gar „Bellevue“ oder so was abgedrehtes; nein, sie heißt schlicht „Bierbar am Park“ und das 0,5er Schultheiss bekommt man für 2,40€. Der Erotik-Shop an der Seestraße heißt schlicht und einfach „Sex-Laden“ und am „Mini-Markt“ in der Turiner Straße steht dran, dass es warmen Kaffee gibt. Wahlweise natürlich mit ein oder zweimal Kaffeesahne natürlich, aber es gibt warmen Kaffee. Hier im Wedding gilt: Drin ist, was drauf steht.

Und doch  bleibt auch festzuhalten: Dieser Wedding rollt niemand den roten Teppich aus. Hier im alten Arbeiterkiez, wo einstmals die Arbeiter von den Werken der AEG oder von Osram lebten, werden – abgesehen von ein paar türkischen Tees aufs Haus – keine großen Geschenke verteilt, hier musst du dir alles erarbeiten.  Der Wedding ist ein harter Hund, vielleicht ist er manchmal sogar eine Drecksau. Um hier bestehen zu können, brauchst du klare Ziele, Disziplin, Willen und Leidenschaft. Und du darfst keine Angst vor Menschen haben. Du musst auf sie zugehen können und mit ihnen reden können, auf ihrer eigenen Wedding-Redensart. Wer hier auf’s Maul kriegt, muss sich kurz schütteln und dann wieder aufstehen, sonst geht er unter. Wer hier rumflennt, kriegt gleich noch eins auf die Schnauze. Hier musst du dich behaupten, hier darfst du dich nicht einschüchtern lassen, hier musst du im Zweifel auch mal dagegen halten.  

Und wenn man sich das alles an diesem sonnigen November-Mittag  hier auf der Schillerwiese so vor Augen führt und dann an unsere Trainer, an Robert aber vor allem auch an unseren Cheftrainer Niko Kovač denkt, dann bildet  man sich ein, eine Ahnung davon zu bekommen, wie viel von diesem Wedding noch in den Kovač-Brüdern  stecken muss. Als Beobachter scheint man die wesentlichen Charakterzüge des Weddings in den  Kovačs wiederzuerkennen. Gepaart mit den zwischenmenschlichen Werten, die ihnen ihre Eltern und möglicherweise  auch Jugendtrainer und andere Bezugspersonen vermittelten, bilden diese Wedding-Skills vermutlich auch heute die Grundlage  ihrer derzeitigen  Wundertrainer-Tätigkeit.

Gleich auf seiner Vorstellungs-Pressekonferenz im März dieses Jahres hat Niko Kovač klargestellt, dass er die Fußballer-Sprache, die Sprache des Weddings beherrsche. Es bedarf zwar einiger Phantasie, wenn man ihn in Interviews oder auf Pressekonferenzen in seiner druckreifen Sprache reden hört, aber zuzutrauen ist es ihm schon, dass er die derbe, teilweise ordentlich testosterongesteuerte Sprache der Fußballkäfige des Weddings verstehen und sprechen kann.  Für jemanden, der in den Käfigen des Weddings bestanden hat, ist es keine große Herausforderung mit den Tigern einer Profi-Fußballmannschaft fertig zu werden, selbst wenn die die Wesenszüge eines fauchenden Alpha-Tigers haben, wie beispielsweise so ein Haris Seferovic. Wer aus dem Wedding kommt, der ist  schlicht und einfach authentisch, wenn er immer und immer wieder auf die Unverzichtbarkeit von Sachen wie Disziplin, Willen, Hingabe, Leidenschaft und Zusammenhalt hinweist. Man nimmt ihm ab, dass er einen Plan hat. Und genau das weist er ja derzeit immer wieder eindrucksvoll nach. Der Mann hat höchste Ziele, er hat höchste Ansprüche an seine Leute er macht klare Versprechungen aber erzählt einem nicht das Blaue vom Himmel. Er erwartet von seinen Leuten volle Hingabe, er erwartet das Maximum aber er erwartet nichts unleistbares. Er erwartet das, was er selber zu leisten im Stande war. Man muss sich schlicht  die Aussagen seiner oben erwähnten Vorstellungs-Pressekonferenz anhören: Alles was er damals  angekündigt hat, wurde  von ihm  eingelöst bzw. umgesetzt. Kein Versprechen ist er schuldig geblieben. Und vielleicht liegt genau in diesem Punkt der Zauber von Niko Kovač, der dazu führt, dass man ihm als Eintracht-Anhänger gerade so zu Füßen liegt, der dazu führt, dass man sich erstmals überhaupt bei einem Eintracht-Trainer fragt wo der überhaupt her kommt und wo seine Wurzeln liegen, oder dass man vielleicht erstmals zu so einer Art Trainer-Groupie wird, wie es Serdar aus dem Dönerrestaurant am Leopoldplatz vermutlich ausdrücken würde.

Dieser Niko Kovač ist kein Dampfplauderer, er ist kein Selbstdarsteller. Was er sagt hat Hand und Fuß. Bei ihm gilt, genau wie beim Wedding: Drin ist, was drauf steht. Er nimmt sich selbst nicht wichtiger als er ist sondern stellt alles in den Dienst der Sache. Und wenn er es mal krachen lässt, dann nie um jemanden herabzuwürdigen sondern weil er es für das Große und Ganze in diesem Moment  als notwendig erachtet. Er hat selber die Hingabe, die Leidenschaft, die er von seinen Leuten fordert, er lebt alles vor was er erwartet und  schießt dabei selber nie über das Ziel hinaus oder wird gar unfair. In seinen Charakterzügen scheint  er das Feuer eines Carlos Zambranos und die Ruhe und Abgeklärtheit eines Alex Meiers zu vereinen. Und was ihm natürlich auch zu Gute kommt ist die Tatsache, dass er mit allen Wassern gewaschen ist. Er kennt die Taschenspielertricks der Branche und kann sich darauf einstellen und ist vorbereitet. Exemplarisch sei noch mal an den Ersatzball erinnert, den er beim Auswärtsspiel in Darmstadt letzte Saison immer parat hielt für den Fall, dass die Lilien Zeitschind-Spielchen veranstalten würden.

Und der Junge aus dem Arbeiterkiez, dem Wedding, weiß aus eigener Erfahrung, was  alles durch harte Arbeit erreichbar ist. Noch so ein Zitat aus der Pressenkonferenz im März: „Es wird nicht einfach, aber was ist schon einfach im Leben?“ Jedem anderen Trainer würde man sofort mit dem Phrasenschwein vor der  Nase wedeln, nicht bei Niko Kovač. Ihm nimmt man das ab, Kovač weiß was dieser Satz bedeutet.  Wenn etwas nicht so klappt, wie geplant, wenn man gar vom Pech verfolgt wird, dann ist jammern keine Option für ihn. Dann muss man halt an einer anderen Stelle eine Schippe drauf legen und noch härter arbeiten. Um eine solche Einstellung zu entwickeln ist der Wedding sicher nicht die schlechteste Schule.

Und dieser harte Arbeiter Niko Kovač aus dem rauen Arbeiterbezirk hat mit seiner Arbeit darüber hinaus  etwas ausgelöst, was voller Anmut ist und für viele Eintracht-Anhänger eine völlig  neue Erfahrung. In tausenden Herzen von Eintracht-Fans keimen nämlich derzeit ganz zarte Pflänzchen. Und diese zarten Pflänzchen bestehen  aus Träumen. Es sind keine abenteuerlichen Träume, keine unrealistischen Träume. Aber es sind auch keine Alpträume, nein es sind schöne Träume. Und dieses Gefühl ist für Eintracht-Fans daher so neu, da es ihnen über Jahre  verboten war zu träumen. Immer und immer wieder wurde ihnen gebetsmühlenartig erklärt, dass die Bundesligatabelle keinen Raum für Träume bereit hält, da sie  mindestens so zementiert sei, wie die Bausubstanz im Berliner Wedding.

Die Tatsache, dass  der Kaffee mit  Kaffeesahne aus dem „Mini-Markt“ inzwischen alle ist und auch der Uhrzeiger ein wenig drängt, reißt einen aus diesen möglicherweise etwas   pseudo-stichhaltigen Überlegungen, in denen versucht wird den Bezug zwischen der Herkunft der Kovač-Brüder und ihrer heutigen Arbeitsweise zu ergründen. Ob an all den Überlegungen was dran ist, könnten im Endeffekt nur die Kovač-Brüder selber beurteilen. Aber die sollten anstatt solche Belanglosigkeiten  zu beurteilen, lieber ihre Zeit darauf verwenden,   was sie am besten können. Also zum Beispiel solche Sachen wie  lahmende Außenverteidiger zu Raketen umfunktionieren, ins Stottern geratene japanische Mittelfeldmotoren  zu Weltklasse- Liberos  verwandeln, junge spanische Rohdiamanten schleifen, buchholzer Zopfträger bei Laune zu halten  oder seelenlose  Trümmertruppen  zu einer leidenschaftlichen, feurigen und aufregenden Fußballmannschaft zu formen.  Und wenn man als Eintracht-Anhänger in dieser Vorweihnachtszeit einen einzigen Wunsch auf einen Zettel schreiben dürfte, dann wäre es sicher der, dass die Kovač-Brüder, die   aus dem Wedding stammen, das was sie am besten können, noch möglichst lange im Dienste von Eintracht Frankfurt machen.
So wird also der Schillerpark an diesem November-Mittag fast ein wenig wehmütig verlassen. Man sucht das Auto auf und gibt die Zieladresse für den nächsten Termin ein. Und so rollt man los. Auf der Suche nach einem geeigneten Sender fürs Autoradio bleibt man bei  „Fritz“ vom RBB hängen, denn dort spielen sie einen Song des Berliner Rappers „Kontra K“ der behauptet  "Erfolg ist kein Glück."

Jetzt ist nicht überliefert, ob Niko  Kovač   etwas für   Sprechgesang mit deutschen Texten übrig hat. Wovon man aber ausgehen kann ist die Tatsache, dass er mit den Botschaften des Textes von „Kontra K“ was anfangen könnte. Darin heißt es zum Beispiel:

Talent ist harte Arbeit, Perfektion dauert Jahre
Wenn sie schreien ich hab es leicht, dann habt ihr leider keine Ahnung
Wir kommen tief aus dem Dunklen entgegen der Erwartung
Hass und Neid, Blut und Schweiß gibt dem Leben nur mehr Erfahrung
Ausdauer ist der Schlüssel für den Ruhm
Es gibt viel was mir fehlt, aber davon hab ich genug


Erfolg ist kein Glück
Sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen
Das Leben zahlt alles mal zurück


Und mit dieser Musik im Ohr geht es aus den Seitenstraßen des Weddings, rauf auf die Müllerstraße und dieser dann in südöstlicher Richtung folgend. Vorbei an der U-Bahnstation Seestraße, vorbei am Leopoldplatz. Noch mal ganz kurz ein bisschen Wedding-Gefühl einatmen. Und dann weiter, am S-Bahnhof Wedding vorbei, wo die Müllerstraße dann irgendwo in die Chausseestraße übergeht und wo dann spätestens ab dem  Oranienburger Tor   ein ganz  anderes Berlin anfängt, eines, was mit dem Wedding so gar nichts mehr gemein  hat.

Dieses glitzernde, saubere Berlin. Dieses völlig überdrehte Berlin.  Dieses Berlin mit tollen schillernden Fassaden aus Glas und Stahlbeton, wo einem die Läden das Blaue vom Himmel versprechen. Dort wo Lafayette, H&M, Zara, Lacoste, Boss, Gicci und Marc O´Polo, Picard, Linus,  Napapijri und wie sie alle heißen nur drauf lauern, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Mit unbändigen Versprechungen zum „Black Friday Sale“ wollen sie einen in ihre Tempel locken. Hinter glitzernden Fassaden, wo sie „Die Besten Angeboten zum Cyber Monday“  für einen bereithalten.  Dieses Berlin der Kaffee Einsteins  und von Starbucks.  Dort wo mit Höflichkeitsfloskeln wie „Einen Wunderschönen guten Tag“, „Kann ich sonst noch was für Sie tun?“, „Vielen Dank“, „Sehr gerne und einen schönen Tag noch“ nur so um sich geworfen wird und wo man dann aber doch  bestenfalls  mitleidig  belächelt wird, wenn man einen großen Kaffee mit zweimal Kaffeesahne bestellt. Wo die entgeisterte Antwort auf so eine Bestellung lautet: „Großen Kaffee haben wir nicht, wir haben nur tall, grande oder venti. Und Kaffesahne haben wir auch nicht, aber ich mache Ihnen sehr gerne einen Java Chip Frappuccino  oder einen Toffee Nut Latte. Oder probieren sie doch mal unseren ausgezeichneten Chai Latte.“  Und Bockwurst mit Senf bekommt man bei Starbucks vermutlich auch nicht  so ohne weiteres. Und schon gar nicht werden einen die Starbucks-Verkäuferinnen mit einem grinsenden „Du kommst nicht von hier, oder?“ begrüßen. Denn sie haben sicher in ihrem Express-Coaching gelernt, dass man so nicht mit Kunden spricht. Schade eigentlich für die Starbucks-Kunden.

Und während man hier in der adventlich herausgeputzten Friedrichsstraße so über Lafayette, H&M, Zara, und Starbucks nachdenkt, möchte man eigentlich am liebsten auf der Stelle umdrehen und auf direktestem Wege zurück in den Wedding fahren. Man möchte sich eine Bockwurst ohne „Bitte“, „Danke“, „Sehr gerne“ dafür aber mit reichlich Senf bestellen. Man möchte literweise Kaffee mit möglichst viel Kaffeesahne in sich hinein kippen und man möchte sich danach mit der älteren Frau mit ihrem Gismo, mit dem Kia-Creed-Opa, dem Trucker-Cap-Araber und mit Serdar auf ein paar große, frisch gezapfte Schultheiss für 2,60€ in der Bierbar am Park treffen.

Leider aber sieht der Terminkalender nun diese  Friedrichstraße in Berlin-Mitte vor. Wehmütig seufzt man vor sich hin und denkt:  „Ach ja, der Wedding.“  Für einen kurzen Moment möchte man sogar sagen „Mein Wedding“. Im gleichen Augenblick beißt man sich aber auf die Zunge und verbietet sich so etwas zu sagen. Denn das wäre tatsächlich eine unverzeihliche Anmaßung  gegenüber den Leuten, die wirklich aus dem Wedding kommen. Gegenüber der älteren Frau mit ihrem Gismo, gegenüber dem Kia-Creed-Opa und seinem Madamchen, gegenüber dem Trucker-Cap-Araber,  gegenüber  Serdar, für den die Straßen im Wedding aus Gold sind und nicht zuletzt gegenüber Niko und Robert Kovač , den Brüdern aus der Turiner Straße. Alle die dürften mit Fug und Recht sagen: „Mein Wedding“. Aber nicht irgendein  daher gelaufener  Trainer-Groupie.  Nein der darf das nicht, der darf sich höchstens  wohlwollend an einen kurzen, eindrucksvollen  Ausflug an einem Novembertag in den Wedding erinnern.
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Wow. Vielen, herzlichen Dank für diese Forums-Perle.

Als überzeugtem Bewohner des nördlichen Zentralberlins hast Du mir mit Deinem wunderbar geschriebenen Bericht über die Kovac-Brüder, Heinz Gründel & so vieles mehr die ein oder andere schöne Gänsehaut und viele herrliche, mir zuvor gänzlich unbekannte Informationen beschert. So sehr ich auch meine Frankfurter Heimat liebe, Du hast mir meine später gewachsene Liebe zum dicken B mal wieder bestätigt.
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Ich gebe zu, ich bin kein Bücherwurm und zu lange Texte ermüden mich oft. Aber Deinen Beitrag habe ich verschlungen und bin gerührt, begeistert, neugierig und kann es kaum fassen, wie phantastisch gelungen dieser Beitrag von Dir ist! Danke!
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Die nächste Perle aus deinem schöpferischen Fundus. Vielen Dank Brodowin
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Toll geschrieben, dazke!
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Da muss ich mich doch glatt mal wieder einloggen.

Besten Dank für den tollen Beitrag. Liebevoll, geduldig, aufmerksam, offen und sehr gut lesbar geschrieben. Ein selten gewordenes Qualitätsniveau.

Es ist sehr schön zu sehen dass es Menschen gibt, welche mit Begeisterung hinter die Kulissen blicken und aufsaugen was sie sehen und fühlen.

Gruß vom Lou
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Etwas stilistisch, inhaltlich und atmosphärisch Besseres habe ich in all den Jahren, in denen ich mich - meist passiv  und sehr selten aktiv - in diesem Forum tummele, ### noch nie gelesen.
Hochachtung und Glückwunsch!
Cantiere
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ein toller Beitrag! Kollege Brodowin hat den Schriftsteller im Blut
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ein toller Beitrag! Kollege Brodowin hat den Schriftsteller im Blut
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Danke für dieses forumsliterarische Meisterwerk @Brodowin!
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Sauber, Brodowin.
Wo kommt eigentlich Benny Köhler her?
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Sauber, Brodowin.
Wo kommt eigentlich Benny Köhler her?
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WuerzburgerAdler schrieb:

Sauber, Brodowin.

Wo kommt eigentlich Benny Köhler her?

Gespielt hat er bei 2 Vereinen in Reinickendorf
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Sensationell, vielen herzlichen Dank dafür !

Ich bin beruflich derzeit öfters in Berlin und werde demnächst mal
auf Deinen Spuren (und denen unserer Trainer) durch den Wedding wandeln.

Sehr inspirierend und extrem unterhaltsam.
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Sauber, Brodowin.
Wo kommt eigentlich Benny Köhler her?
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WuerzburgerAdler schrieb:  


Wo kommt eigentlich Benny Köhler her?

Der kommt wie sein Kumpel Sido aus dem Märkischen Viertel.

Und danke allerseits für die freundliche Rückmeldung! Freut mich, dass sich doch einige durch den langen Text kämpfen.
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WuerzburgerAdler schrieb:  


Wo kommt eigentlich Benny Köhler her?

Der kommt wie sein Kumpel Sido aus dem Märkischen Viertel.

Und danke allerseits für die freundliche Rückmeldung! Freut mich, dass sich doch einige durch den langen Text kämpfen.
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Ein echtes Meisterwerk, welches einen dermaßen unmittelbar mit auf die Reise nimmt, wie ich es selten gelesen habe.

Vielen Dank
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Eine kleine Vorbemerkung: Da es mein  Terminkalender letzte  Woche her gab und ich zwischen zwei beruflichen Terminen ca. drei Stunden „Leerlauf“ in Berlin hatte und es ohnehin kein besonders großer Umweg gewesen ist, habe ich die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und mich mal ein bisschen umgesehen, dort wo unser Trainergespann, unsere  Kovač-Brüder aufgewachsen sind und das Fußballspielen erlernt haben. Es war ein schöner Kurztrip, mit zahlreichen Eindrücken. Daher  habe ich mich entschieden, diese mit interessierten Eintrachtlern hier im Forum zu teilen. Es ist am Ende trotz eher kurzem Ausflug doch ein eher langer Text geworden. Leuten mit einer Abneigung für lange Texte sei daher dringend empfohlen, hier  schnell wieder weg zu klicken. Alle anderen die darauf Lust haben und ein bisschen Zeit übrig haben, können sich auf einen kurzen Ausflug eingeladen fühlen.  

Es geht heute also in den Wedding. Jener Berliner Stadtteil, der seit jeher als Arbeiterviertel bezeichnet wird. Dieser Stadtteil, der einen der wenigen Ortsnamen trägt, der im deutschen Sprachgebrauch meistens in Verbindung mit einem Artikel verwendet wird. Warum das so ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden, irgendwie fühlt es sich aber ganz gut an zu sagen, „Ich geh heute mal in den Wedding“. Man fühlt sich diesem Ort dadurch gleich irgendwie etwas verbundener. Man geht ja heute schließlich nicht irgendwo hin, nicht nach Schöneberg, nicht nach Friedrichshain, nicht nach Charlottenburg, nein, man geht in den Wedding. Und die Leute die dort wohnen kommen auch nicht irgendwo her. Sie kommen nicht aus Wilmersdorf, nicht aus Lichtenberg und auch nicht aus Pankow; nein sie kommen aus dem Wedding.  Damit  aber erstmal genug der Wortklauberei an dieser Stelle, der Wedding ist das Ziel.

Wenn man von Pankow aus über die Wollankstraße in den Wedding vordringt, wird man an der Kreuzung Prinzenallee-Badstraße auf eindrucksvolle Weise darauf aufmerksam, dass unsere Kovač-Brüder nicht die einzigen Geschwister sind, die auf den Bolzplätzen der Stadt groß wurden und es später  in der Fußballwelt zu Ruhm und Ehre schafften. Auf dem überdimensionalen Portrait an der Hauswand sind drei Brüder verewigt, von denen einer immerhin Weltmeister, der andere ebenfalls Nationalspieler wurde und  der dritte inzwischen sogar in Musik macht. Und es wird daran erinnert, dass sie  „Gewachsen auf Beton“ sind. Da man sich erhofft, dass sich durch die Musik des ältesten dieser Brüder ein bisschen Wedding-Gefühl einstellt, darf er gerne erstmal als Soundtrack für unsere Forschungsexkursion   in den Wedding herhalten. Ob unsere Kovač-Brüder ebenfalls auf Beton gewachsen sind, das gilt es heute heraus zu finden. Folgt man nun der Pankstraße, so gelangt man allmählich mitten rein in diesen Wedding. Da man sich als Eintracht-Anhänger natürlich vorher etwas schlau gemacht  hat, wo denn nun genau die Wurzeln der Kovač -Brüder liegen, wurde der Leopoldplatz als geeigneter Ausgangspunkt auserkoren. Nachdem der  Leopoldplatz schließlich erreicht und gleich mehrere Male auf erfolgloser Parkplatzsuche   umkreist wurde, kommt es gezwungenermaßen zu einer kurzen  Planänderung, denn erst jenseits der Seestraße kann ein kostenloser Parkplatz, ohne Zeitbeschränkung gefunden werden. Das Auto wird also einen Steinwurf vom Schillerpark in einer Seitenstraße abgestellt, von nun an geht  es zu Fuß auf Wedding-Mission.

Und um die Anfänge der Fußballaktivitäten unser  Kovač –Brüder nachzuvollziehen, ist der Schillerpark sicher nicht die schlechteste Anlaufstelle. Hier sollen die Brüder Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre auf der großen Schillerwiese stundenlang  gekickt haben, wenn sie sich nicht gerade auf einem Bolzplatz in der Wohnsiedlung  auf der anderen Seite der Seestraße aufhielten.  Im Gegensatz zu den Boateng-Brüdern sind die Kovačs also nicht ausschließlich auf Beton sondern zum Teil auch auf Wiese gewachsen.  Wenn man von der Edinburger Straße   den Schillerpark betritt, schweift der Blick sofort über die weite Wiese. Es kommt einem fast ein bisschen befreiend vor, wenn man aus den dicht bebauten Wohnsiedlungen des Weddings heraus tritt und kurz den Blick in die Weite richten kann.  In der Ferne sticht eine dreistufige Terrassenanlage  aus Kalkstein ins Auge. Viele Menschen sind an diesem Werktag  vormittags, so gegen halb elf, noch nicht im Park unterwegs. Vereinzelt begegnen einem Jogger und Joggerinnen, die motiviert ihren Leibesertüchtigungen nachgehen. Und Hundehalterinnen und Hundehalter, jede Menge davon, kommen einem mit ihren vierbeinigen Gefährten entgegen. Wenn man in die Gesichter der Menschen blickt, drängt sich bei vielen der Verdacht auf, dass sie vielleicht älter aussehen, als sie tatsächlich sind. Die Gesichter zeugen von einem Leben, das sicher nicht immer auf der Sonnenseite stattgefunden hat und von einem Leben, welches immer wieder  Nackenschläge und harte Zeiten  bereitgehalten haben muss. Und es darf auch davon ausgegangen werden, dass sie außer  ihren Vierbeinern  kaum jemanden haben, dem sie von den Mühen ihres Lebens erzählen können.
Relativ still  ist es für so einen Park mitten in der Stadt. Lediglich Martinshörner durchbrechen  immer wieder die Ruhe. Direkt am Schillerpark liegt offenbar eine  Rettungswache, von wo aus die Notarztfahrzeuge im Minutentakt zu ihren Einsätzen ausrücken.

Der Vormittag hat den Park in ein seltsam-milchiges Licht getaucht. Fast scheint es so, als ob noch etwas Nebel über der Schillerwiese hängt. Es ist so ein November-Vormittag, an dem die Sonne und die Wolken da oben am Himmel gerade in harte Verhandlungen eingetreten  sind, darüber, was denn das heute für ein Tag werden wird. Soll es eher ein goldener Spätherbst-Tag werden oder doch ein trüber Frühwintertag. Noch lässt sich nicht sagen, wer sich in diesen Verhandlungen am Ende durchsetzen wird.

Am Rande der großen Wiese geht der Weg nun weiter, immer in Richtung dieser steinernen Terrassen. Man kommt an einem dieser berühmt-berüchtigten Fußball-Käfige des Weddings  vorbei, der allerdings an diesem  Vormittag ziemlich verlassen zwischen herbstlichen Sträuchern  steht. Wenn man sich von hinten den Terrassen nähert, gelangt man über eine Treppe zunächst auf die höchste Stufe. Von hier hat man einen tollen Blick über die große Schillerwiese. Man kann dort wunderbar auf der Mauer sitzen und sich vorstellen, wie da unten die kleinen Kovač-Jungs dem Ball nachjagen. Und sicherlich war der kleine Niko schon damals, zu Schillerwiesen-Zeiten, so eine Art Anführer der  Kicker da unten.

Eine herannahende Kitagruppe, die unter großem Gejohle den nahen Spielplatz stürmt, reißt einen schließlich aus diesen Tagträumereien. Aber man muss ja auch weiter, den Wedding erkunden. Wenn man die Treppen herunter steigt, steht man auf der mittleren Stufe der Terrassen dem für den Park namensgebenden Dichter gegenüber. Hier steht er in Bronze gegossen, dieser Schiller, dem ja nachgesagt wird, dass er eine durchaus innige Freundschaft mit einem Bub aus Frankfurter gepflegt haben soll. Dieser Schiller stand auch schon da oben, als die Kovač-Brüder unten auf dem Rasen Fußball spielten. Konzentriert, fast schon ein wenig streng blickt er von dort auf die Schillerwiese, gerade so, als ob er von dieser hervorragenden Sichtposition aus die nächste Generation der Super-Kicker aus dem Wedding scouten würde.

Der Legende nach muss es sich nämlich da unten auf der Wiese, irgendwann in den frühen 1980er Jahren zugetragen haben.  Der junge Niko kickte  mit seinem Bruder und noch ein paar anderen Jungs, wie so oft, auf der Schillerwiese. Dabei soll der wieselflinke, feine Techniker auf der Wiese,   einem Verantwortlichen vom ortsansässigen Fußballverein, dem SC Rapide Wedding  aufgefallen sein. Angeblich wurde  noch vor Ort nicht lange gefackelt  und Papa- Kovač, der zufällig auch vor Ort war, soll nachdrücklich gebeten worden sein, mit seinem Niko mal zum Training der Jugendmannschaft von Rapide Wedding vorbei zu kommen.  Mate Kovač, zögerte nicht lange und brachte neben Niko auch gleich den etwas jüngeren Robert mit zum Training. Von da an nahm die Fußball-Geschichte der Kovač-Jungs ihren Lauf. Die überragenden Schillerwiesen-Kicker und Bolzplatz-Größen Niko und Robert waren im Vereinsfußball angekommen.

Und an dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs zum ersten Fußballverein der Kovač-Brüder erlaubt:
Der Sport-Club Rapide Wedding  war ein Berliner Traditionsverein, mit langer, bewegter Geschichte. Man spielte über Jahrzehnte im gehobenen Berliner Fußball und nahm u.a. in den 1970er Jahren zwei Mal an der Hauptrunde des DFB-Pokals teil. So scheiterte Rapide beispielsweise in der DFB-Pokalsaison 1975/1976 mit 2:9 am VfB Stuttgart, obwohl man bis zur 30. Spielminute sogar mit 2:0 führte. Die Stuttgarter waren damals unter anderem mit so bekannten Namen wie Helmut Roleder, Willi Entenmann, Egon Coordes , Dieter Brenninger und einem gewissen Ottmar Hitzfeld in den Wedding gereist. Beim kurzen Einlesen in die Geschichte des SC Rapide Wedding stößt man unter anderem auf die Information, dass der heutige Bundesligaschiedsrichter Manuel Gräfe und unser Robert Kovač in der Jugend von Rapide Mannschaftskollegen waren.  Hoffentlich bekommen wir den Herrn Gräfe nun regelmäßig als Schiri-Ansetzung, weil man ja keine Ex-Mitspieler verpfeift, und schon gar nicht solche, mit denen man eine Vergangenheit im Wedding teilt.

Man  stößt aber  überraschenderweise  auf eine weitere Spur, die Rapide Wedding mit  Eintracht Frankfurt verbindet. Denn die Kovač-Brüder sind nicht die ersten, die für Eintracht Frankfurt tätig waren und deren Stammverein der SC Rapide Wedding  ist. Ein gewisser Heinz Gründel stammt  ebenfalls aus dem Wedding und spielte erstmals auf Vereinsebene für den SC Rapide.  Und diese Anmerkung sei an dieser Stelle erlaubt: Auch der Gründel hat  mit der Eintracht  einstmals die Relegation erfolgreich überstand und dann durchaus Anteil am folgenden Aufschwung gehabt.  Es waren die Zeiten, als in Frankfurt der Begriff  „Fußball-2000“ erstmals die Runde machte. Und da sage noch jemand „Geschichte wiederholt sich nicht“. Die Verbindung Wedding-Frankfurt scheint jedenfalls  unter keinem so schlechten Stern zu stehen.
Leider gibt es den SC Rapide in seiner ursprünglichen Form heute nicht mehr, da man zu Beginn des neuen Jahrtausends mit dem SV Nord-Nordstern zum SV Nord Wedding fusionierte. Dieser Verein konnte nicht an frühere Erfolge anknüpfen und kickt inzwischen in der Kreisliga B. Immerhin führt man aber Tagesaktuell die Tabelle an und hofft  am kommenden Wochenende die Tabellenführung gegen den SC Westend 01 II weiter ausbauen zu können.  

Aber nun zurück zu unserem Kurztrip in den Wedding, denn wir  wollen ja weiter. Der Weg geht weiter durch den Schillerpark. Über dem  Norden des Parks donnern in enger Taktung die Maschinen, die sich in geringer Höhe im unmittelbaren Landeanflug auf TXL befinden.  Das Fahrwerk haben diese Maschinen längst   ausgefahren, von hier aus mögen es gut und gerne noch 2000 Meter Luftlinie bis zur Landebahn in Tegel sein. Der Fußballplatz am Rande des Schillerparks  -  übrigens ein gepflegter Kunstrasenplatz, der offensichtlich täglich vom herumwirbelnden Herbstlaub befreit wird – liegt zu dieser Zeit noch ruhig und unberührt zwischen Bäumen. Sportplatz Ungarnstraße wird die Anlage offiziell genannt.
Dieser Sportplatz ist übrigens die Heimspielstätte des BFC Meteor 06. Unrühmliche Aufmerksamkeit erlangte dieser Verein durch einen Vorfall bei einem Spiel seiner dritten Mannschaft im Jahre 2015. Aber sportlich gibt es über den  BFC Meteor 06 auch schöne Sachen zu berichten.  Denn ein Welt- und Europameister lernte hier das kicken, „Icke“ Häßlers erster Fußballverein war der BFC Meteor, also ein weiterer großartiger Fußballer aus dem Wedding.

Vom Sportplatz Ungarnstraße hört man   den tosenden Verkehrslärm, der von der nahen Seestraße herüber schallt. Diese Seestraße ist im „mittleren Norden“ von Berlin eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen. In östlicher Richtung wird sie bald zur Osloer Straße und später zur Bornholmer Straße und führt in den Prenzlauer Berg. In der anderen Richtung wird sie jenseits des Westhafens zur A100, der Berliner Stadtautobahn. Dementsprechend hoch ist hier das Verkehrsaufkommen. Die Straßenüberquerung ist daher eine herausfordernde Angelegenheit. Man benötigt an der Fußgängerampel mindestens zwei, eher drei Grünphasen, um wirklich von einer Straßenseite auf die andere zu gelangen,  denn neben den jeweils zwei Fahrspuren in jede Richtung, verläuft in der Mitte der Straße auch noch die doppelgleisige Tram. Aber es hilft nix, wir müssen da rüber, um weiter auf den Spuren der Kovač-Jungs zu wandeln.  Wenn man nun, nach erfolgreicher Überquerung  der Seestraße einige Meter in südwestlicher Richtung folgt, die Einmündung der Malplaquetstraße links liegen lässt, steht man plötzlich an der Straße, in der die Familie Kovač in den 70er und 80er Jahren gelebt hat, der Turiner Straße. Man bleibt fast etwas ehrfürchtig an der Fußgängerampel unter dem Straßenschild stehen, schüttelt sich dann aber kurz, man will ja schließlich keinen Star-Kult betreiben und als das Ampelmännchen auf grün schaltet, biegt man ein in die Straße, die die Kovač-Brüder unzählige Male rauf und runter gelaufen sein müssen.  

Der erste Eindruck: Eine typische Berliner Seitenstraße in einem Wohngebiet. Die Häuser gehen auf beiden Seiten bis in der 5. Stock hoch, beige ist die dominierende Farbe der Fassaden und obwohl es eine Seitenstraße ist, wirkt sie kein bisschen beengend, denn die Städteplaner haben glücklicherweise dafür gesorgt, dass ordentlich Platz ist zwischen den Häuserfassaden auf beiden Straßenseiten. Da ist ausreichend Platz für eine Straße mit Verkehr in beide Richtungen, da ist Platz für jede Menge Parkplätze  auf beiden Straßenseiten (von denen übrigens restlos alle belegt sind) und da ist auf beiden Straßenseiten sogar noch Platz für einen breiten Gehsteig. Diese Turiner Straße wirkt also durchaus einladend an diesem November-Morgen und ermuntert einen, in sie hinein zu  schlendern.  Am Himmel über dem Wedding sieht es inzwischen übrigens ganz danach aus, als hätte sich die Sonne durchsetzen können und es läuft alles auf einen freundlichen Spätherbsttag hinaus. Auch diese Tatsache macht Lust darauf, diesen Wedding weiter zu erkunden. Auf beiden Seiten der Straße also typische Berliner Wohnsiedlungsbauten: Man gelangt durch das Eingangstor an der Straße durch einen Durchgang auf einen begrünten, teils mit hohen Bäumen bewachsenen Hinterhof, von wo aus man weitere Wohneinheiten oder gar weitere Hinterhöfe erreicht. Gut vorstellbar, dass auch diese Hinterhöfe von fußballverrückten Jungs Ende der 70er, Anfang der 80er dazu genutzt wurden, um ihrer Leidenschaft auf engem Raum nachzugehen.

Auf dem Weg, weiter die Turiner Straße hinunter gibt es vor einem Laden plötzlich Aufregung mit kleinerer Rudelbildung. Der Fahrer eines LKW, der offensichtlich diesen Laden mit frischer Ware beliefert, hat den Warnblinker gesetzt und macht sich mit Gelassenheit ans Entladen. Dies führt nach kurzer Zeit zu einem kleinen Rückstau, denn so viel Platz bietet die Turiner Straße dann doch nicht, dass man da so ohne weiteres an einem mittelgroßen LKW beim Entladen vorbei fahren kann.  Nach wenigen Sekunden schallt die erste Hupe durch die Turiner Straße. Das Hupen wird ca. fünf Mal in geringen Zeitabständen wiederholt und jedes Mal dauert das Hupsignal etwas länger. Schließlich steigt ein älterer Mann aus seinem grauen Kia Ceed, der in erster Reihe in diesem kleinen Rückstau steht. Graue Haare, graue Hose, graue Jacke, Brillenmodell aus den Zeiten, in denen die Kovač-Jungs noch in der Straße wohnten. Eigentlich fehlt nur die Herrenhandtasche am Handgelenk, um das Bild abzurunden, aber die liegt bestimmt irgendwo im grauen Kia Ceed. Der Kia-Ceed-Opa brüllt sofort los: „Sach ma, du kannst doch hier nich die Straße einfach dicht machen und in aller Ruhe ausladen!!!“ Erwiderung des LKW-Fahrers. „Ick kann det jetz hier nich ändern, ick bin in weniger als sieben Minuten weg.“ Daraufhin der Kia-Ceed-Opa nicht mehr wirklich brüllend, aber immer noch laut genug, dass die Turiner Straße mit hören kann: „Pass ma uff, ick hab mit meiner Frau um zwölf ein Fußpflege-Termin in Reinickendorf, wat globst du, wat mir mein Madamchen  für’ne Szene macht, wenn wir da nich  pünktlich einmar.schieren?“ Antwort des LKW-Fahrers  (achselzuckend): „Wie gesagt, ick bin hier gleich weg.“ Daraufhin der Kia-Opa (wieder fast schon brüllend): „Ick glob det jetz nich, det kann doch nicht wahr sein!!!“. Inzwischen ist ein weiterer Kraftfahrer ausgestiegen und gesellt sich zu dem schimpfenden  Kia-Opa. Es ist ein junger Mann, vermutlich mitte-ende zwanzig, offensichtlich türkischer oder arabischer Abstammung, stattliche Erscheinung, dicke Jacke, gepflegter Vollbart, dazu schwarz-silberne  Trucker-Cap. Er fährt eine edle Limusiene, schwäbischer Bauart mit extrem getönten Scheiben und eindrucksvollen Felgen. Er geht beschwichtigend auf den Kia-Opa zu: „Ey das geht hier jetzt auch nicht schneller, wenn du rum schreist, bleib mal ganz locker.“ Als Beobachter dieser Situation möchte man gerne mit bekommen, wie das hier jetzt weiter geht. Andererseits  will man aber auch nicht wie ein Gaffer stehen bleiben. Also geht man weiter, behält die Szene aber weiterhin im Augenwinkel. Der Kia-Opa und der Trucker-Cap-Araber kommen ins Gespräch. Leider ist man nicht mehr nahe genug dran, um wirklich zu verstehen, was geredet wird.  Es ist auf jeden Fall ein äußerst angeregtes, aber kein feindseliges Gespräch. Nach weniger als fünf Minuten hat schließlich der LKW-Fahrer sein Entladen beendet und gibt die Strecke wieder frei. Es kommt zum Hand-Shake zwischen dem Kia-Opa und dem Trucker-Cap-Mann, sogar ein freundlicher Schulterklopfer ist zum Abschied dabei und alle besteigen ihre Fahrzeuge und fahren ihrer Wege. Viel Lärm also, aber alles halb so wild, man kann getrost die Turiner Straße weiter runter laufen. Die „Taverna Hellas“ hat noch geschlossen, macht aber den Eindruck, als ob man dort während der Öffnungszeiten eine grundsolide  Grillplatte mit Pommes und reichlich Tzatziki bekommen kann. Die Stromkästen in der Turiner Straße wurden   von achtsamen Anwohnern, mit possierlichen Katzen-Bildern verschönert. Ziemlich am Ende der Straße wird aus Norden kommend auf der linken Seite die Fassade an einem Haus neu verputzt. Eine ältere Bewohnerin kehrt gerade, schwer bepackt mit Einkäufen zurück. Sichtlich erfreut über den Baufortschritt tätschelt sie einem der Arbeiter die Wange und sagt „Ach mein Freund, det habt ihr aber schön jemacht.“  Sieh mal einer an, dieser Wedding kann auch ganz schön herzlich, es menschelt hier mehr, als man auf den ersten Blick denken mag. Der Bauarbeiter lächelt verlegen,   offensichtlich hinderte ihn aber die Sprachbarriere daran, eine passende Antwort zu formulieren. Die Bewohnerin stört sich daran nicht. Eine weitere Bewohnerin betritt den Eingang und begrüßt die andere Bewohnerin: „Lange nicht jesehen, wie jeht's uns denn?“ Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Bescheiden, beschissen jeht’s einem, aber nützt ja nüscht, da müssen wa jetzt durch, bald is ja Weihnachten und dann ham wa det Jahr auch wieder jeschafft.“ Beide Frauen lachen darauf herzlich. Ein paar Meter weiter die gleiche Frage zwischen zwei älteren Männern: „Na wie jehts denn so?“ Antwort: „Beschissen wäre jeprahlt, wa?“  Auch hier wieder Gelächter. Im Wedding wird offensichtlich gerne mit dem eher mäßigen Befinden kokettiert. Zumindest aber wird hier nicht  mit einem floskelhaften  „ganz gut“ auf die Frage „Wie geht’s?“, geantwortet, wie das  andernorts so üblich ist, selbst wenn es einem eigentlich beschissen geht.  

Man geht nun noch wenige Schritte und dann ist man auch schon durch, durch die Turiner Straße im Wedding. Puh, kurz durchatmen.
Beim Verlassen der Straße fällt der Blick sofort auf die nahegelegene Neue Nazarethkirche. Rund um diese Kirche ist etwas städtischer Freiraum vorhanden. Einen metallenen Basketballkorb gibt es dort, einige Bänke laden zum Verweilen ein. Dieses Angebot wird  vor allem von älteren Männern genutzt. Sie treffen sich dort offensichtlich häufiger zur Mittagszeit auf 3 bis 8 kühle Sternburg Export. Im Schatten der Neuen Nazarethkirche dann wieder so ein Weddinger Fußball-Käfig. Es ist nicht unbedingt davon auszugehen, dass dieser Fußball-Käfig schon zu den Zeiten da war, als die Kovač-Jungs hier noch umher tollten, aber wenn er damals schon dort gestanden hätte, dann wären der kleine Niko und der kleine Robert hier sicher die Platzhirsche gewesen.

Nachdem man nun also eine Runde um die Kirche gedreht hat, macht man sich auf zum nahegelegenen Leopoldplatz, vorbei an der Alten Nazarethkirche. Man kommt immer wieder an Bänken vorbei, auf denen Männer sitzen deren Gesichter davon erzählen, dass ihr Leben ein ständiger Kampf um ein bisschen Glück gewesen sein muss. Und vielen ist anzusehen, dass dieser Kampf oft genug ein aussichtsloser war. Mit trüben Blicken welken sie hier vor sich hin, lediglich die   Flasche Oettinger  (wahlweise auch  Kindl oder Sterni) in der Hand, scheint ihnen etwas Halt zu geben. Am Leopoldplatz sind schon einige Weihnachtsmarkt-Buden aus weißen Brettern aufgestellt, auch wenn der eigentliche Weihnachtsmarkt  hier erst am 3. Adventswochenende steigt. Flammkuchen, Glühwein und gebrannte Mandeln kann man jedenfalls schon heute erwerben.

Der erste Gedanke, wenn man den Leopoldplatz erreicht hat:  Ganz schön was los hier!  Hier kreuzen sich die Müller- und die Schulstraße, die in ihrem weiteren südwestlichen Verlauf ab hier zur Luxemburger Straße wird. Dementsprechend herrscht hier Verkehr und zwar von allen Seiten. Aber auch auf den Gehwegen ist einiges los. Großstadtlärm von allen Seiten, überall Leute, sehr unterschiedliche Leute. Eine bunte Mischung aus allem. Bei den Frauen sind Kopftücher ein beliebtes Accessoire, die Jungs und Männer unter 30 Jahren bevorzugen Baseball-Kappen.  Die Bevölkerung soll sich neben den Menschen ohne Migrationshintergrund vor allem aus Menschen zusammensetzen, deren Vorfahren aus der Türkei stammen. Aber auch Menschen mit arabischer, afrikanischer, osteuropäischer Abstammung prägen das Stadtbild im Kiez. Und natürlich Leute mit dem „Balkan-Gen“.  All das wird   hier am Leopoldplatz, oder am „Leo“ wie ihn die einheimischen nennen, auf den ersten Blick deutlich. Aber auch zahlreiche junge Menschen, die man dem ersten Eindruck nach in die Kategorie Stundeten einordnet sind unterwegs, die vermutlich aus Böblingen, Siegburg oder Neustadt am Rübenberge zugezogen sind, weil die Mieten hier im Wedding noch nicht in diesen abgehobenen Sphären wie in Kreuzberg, Friedrichshain oder Mitte schweben.

Einen Steinwurf weiter das Rathaus-Wedding. Gegenüber, an einer dieser zahlreichen fensterlosen Brandwände, die es im Wedding  irgendwie viel häufiger zu geben scheint als andernorts, steht hoch oben, in überdimensionalen Buchstaben ein schlichter Satz geschrieben: HARTS 4 ESSEN SEELE AUF! Ob der Nachname des Erfinders der „Agenda 2010“ hier versehentlich falsch geschrieben wurde oder ob es sich um einen Kunstgriff handelt ist schwer zu beurteilen. So oder so scheint der Satz  ein prägendes Lebensgefühl im Wedding  irgendwie treffend zu beschreiben. Leider macht die genau über der Dachkannte stehende Novembersonne ein ordentliches Foto unmöglich, aber das Internet verschafft ja Abhilfe.

Da sich inzwischen Hunger eingestellt hat und dringend ein Ort gesucht wird, um diese Flut von Eindrücken irgendwie erstmal geordnet zu bekommen, wird am Leo nach einem Imbiss oder einem Restaurant gesucht. Die Wahl fällt auf das Pamfilya, ein Döner-Restaurant, und beim Betreten weiß man sofort, dass das die richtige Wahl war. Schlichte, funktionale Tische und Stühle, solide Einrichtung und ein Platz mit Blick auf das bunte Treiben da draußen rund um den Leo ist auch noch frei. Man wird richtig freundlich begrüßt. Schnell ist ein Döner bestellt und prompt bekommt man unaufgefordert einen türkischen Tee hingestellt. Dieser warme Tee tut gut und ist genau das richtige, um die Impressionen des Weddings erstmal sacken zu lassen.

Hier kommen sie also her diese Kovač-Brüder, denkt man, die Kovač-Brüder  die inzwischen so weit weg vom Wedding leben und arbeiten. Und auch wenn sie längst raus gezogen sind, in die große Fußball-Welt: Sich vorzustellen, dass so eine Kindheit hier im Wedding prägend ist und für immer Einfluss auf das Leben hat, egal wie weit weg vom Wedding man inzwischen lebt, dafür bedarf es keiner allzu großen Phantasie. Und eines  ist auch  klar: Falls es irgendwo  eine Profi-Fußballverein mit einem Spielerkader mit Spielern aus 17 verschiedenen Nationen geben sollte, dann sollte dieser Profi-Fußballverein tunlichst alles dafür tun, dass er einen Trainer für diese Spieler bekommt, der hier im Berliner Wedding aufgewachsen ist. Wer hier groß wird, der saugt vom ersten Atemzug kulturelle Vielfalt auf. Für den ist Vielfalt Heimat und vermutlich sogar so normal, dass man darüber  gar nicht viele Worte macht. Man darf sich jedenfalls sicher sein, dass es für einen Bundesliga-Trainer, der hier groß geworden ist, keine Phrase ist, wenn er Internationalität im Kader nicht als Problem sondern als Bereicherung, als fruchtbare Gegebenheit beschreibt, in der alle voneinander lernen. Miteinander leben, sich aneinander reiben und voneinander lernen. Im Wedding bleibt einem  praktisch gar nix anderes übrig. Und ja, dieser Wedding zwingt einen förmlich dazu, dass Leben zu lernen. Was man hier  sieht,   das reicht nicht für irgendwelche wilden Ghetto-Phantasien, nein, dafür ist das da draußen alles fast ein bisschen zu bieder. Aber eines ist auch klar: Mit Ferien auf Immenhof und Kinder von  Bullerbü hat so eine Kindheit im Wedding vermutlich wenig zu tun. Der Wedding scheint neben zahlreichen liebenswerten Charakterzügen auch eine schlitzohrige, eine gerissene, vielleicht sogar eine hinterhältige Seite zu haben. Der Wedding ist keine Pussy, kein Ort für Weicheier. Da draußen, zwischen all den Spielhallen, Wettbüros, Spätis und den verruchten Hinterhöfen, da sind sicherlich  genügend  Fallen aufgestellt, die heranwachsende Jungs und Mädchen an allen Ecken dazu verleiten können, in ihrer Biographie die falschen Abbiegungen zu nehmen.

Während man diesen Gedanken nachgeht,   meint man eine leise Ahnung davon zu bekommen, was die Eltern der Kovač-Brüder, also der Zimmermann Mate Kovač und seine Frau, für hoch anständige, tüchtige  Leute sein müssen. Sie haben es geschafft, hier in diesem Umfeld ihren Jungs auf der einen Seite das nötige Selbstbewusstsein mit zu geben, damit sie in diesem rauen, von harten Jungs geprägten Kiez bestehen konnten und auf der anderen Seite haben sie ihren Jungs Tugenden wie Ehrgeiz, Disziplin, Hingabe und Genauigkeit vermittelten, von denen sie noch heute profitieren, die ihre Triebfedern in ihrem Trainerjob bei Eintracht Frankfurt sind  und ohne die sie vermutlich niemals diese Karriere als Profi-Fußballer und derzeitige Wundertrainer hätten hinlegen können. Und wenn man dazu noch bedenkt, dass es vor allem auch die zwischenmenschlichen Werte sind, die die Kovač-Eltern ihren Jungs Niko und Robert vorlebten und vermittelten, wenn Niko Kovač heute beispielsweise davon spricht, dass er in Sachen Mannschaftsführung versucht „Mensch zu sein“, dann bleibt einem nur zu sagen: Hut ab Mate Kovač und eine mindestens genau so tiefe Verbeugung vor seiner Frau.  Was die  Kovač-Eltern da geleistet haben, ist aller Ehren wert, denkt man so vor sich hin.

Inzwischen wird der Döner gebracht und der junge Mann, der ihn bringt blickt auf die Zettel und den Stift, welche  auf dem Tisch liegen und fragt grinsend: „Na noch schnell Hausaufgaben machen?“  Der junge Mann macht es einem leicht, schnell in ein witziges Gespräch zu kommen. Wie sich später raus stellen soll heißt er Serdar und kommt offensichtlich aus dem Wedding. Und dieser Serdar kommt einem schnell auf die Schliche, da er fragt: „Du kommst nicht von hier, oder?“ Eine Frage,   mit der man vermutlich in irgendeiner Seemannskneipe an der mecklenburgischen Küste rechnen würde, aber nicht hier im Wedding. Aber dieser Serdar scheint ein feines Gespür für die Leute zu haben. Und obwohl man sich vor dem Ausflug in den Wedding ausdrücklich vorgenommen hat, hier keine Leute mit pseudo-journalistischen Fragen voll zu quatschen, weil man zum einen kein Journalist ist und weil man zum anderen das ganze einfach auf sich wirken lassen wollte, erzählt man diesem ab dem ersten Moment sympathischen und vermutlich auch ganz schön schlitzohrigen Serdar, dem man ansieht dass er den Wedding kennt und dass er das Leben hier beherrscht, dann doch ziemlich schnell, warum man hier ist. Serdars grinsende,  entwaffnende Anmerkung dazu: „Krass Mann, du bist hier, weil du mal gucken willst wo so ein Fußball-Typ herkommt. Bist du ein Groupie oder so?“ Gute Frage denkt man dann. Ist man eigentlich schon ein Groupie, wenn man mal nachsehen will, wie es da so ist, wo die Kovač-Brüder herkommen. Irgendwie fühlt man sich ertappt von diesem Serdar. Dieser meint jetzt: „Iss mal deinen Döner jetzt.“ Der Döner ist so, wie ein richtig guter Döner sein muss: Das Fleisch stammt von einem Grillspieß, auf dem wirklich noch Fleischlappen übereinander gesteckt werden (nicht so eine Keule aus Brät, in der alle möglichen Fleischabfälle verwolft werden), die Sauce ist noch eine echte Döner-Sauce auf Joghurtbasis, mit echtem Knoblauch (keine Majo-Basis, keine Geschmacksverstärker) und der Salat ist auch top und hält sich in dieser Döner-Tasche angenehm im Hintergrund. Zwischenzeitlich hat Serdar einen neuen Tee gebracht  und unterhält sich gerade draußen auf der Straße mit einem Bekannten, der offenbar zufällig vorbei kam.
Dann kommt er zurück in den Laden und räumt meine Teller ab. Man kommt wieder ins Gespräch. Und wenn dieser Serdar einem schon auf den ersten Blick ansieht, dass man nicht von hier kommt, dann traut man sich zumindest ihn zu fragen, oder er denn aus dem Wedding kommt.  Seine Antwort: „Ja Mann, der Wedding ist meine Heimat.“ Er sagt das mit Stolz in der Stimme. Er berichtet, dass er mal ein Jahr in Schöneberg war, es dort aber nicht ausgehalten hat und dass er einfach zurück musste. Er sagt Sätze wie: „Hier labert dich keiner voll, hier kannst du dein Ding machen.“  Und einen bemerkenswerten Satz sagt er dann auch noch (und der ist ohne Mist nicht ausgedacht!): „Viele finden den Wedding abgefuckt, kaputt und das is ja auch so, aber für mich ist das meine Heimat, hier sind die Straßen aus Gold.“  Die insgesamt drei türkischen Tees, die  Serdar brachte werden wie selbstverständlich nicht berechnet, Döner für 4,50€ ist für Berliner Verhältnisse stattlich aber wenn man ehrlich ist, war er jeden Cent wert. Als man zurück auf den Leo tritt, ist man fast ein bisschen überwältigt von der Begegnung mit Serdar, da man nicht damit gerechnet hätte, dass man auf diesem Ausflug hier solche Sätze, wie die von Serdar   zu hören bekommt. Sätze von denen man sich zumindest einbildet, dass sie ein bisschen tiefergehend das  Lebensgefühl des  Weddings vermitteln, Sätze, die man sich selbst niemals  hätte ausdenken  können, wenn man versucht hätte, diesen Kiez zu beschreiben.

Wieder draußen an der frischen Luft entscheidet man sich, noch mal in Richtung Turiner Straße zu laufen und denkt dabei natürlich  an die Frage von Serdar „Bist du ein Groupie oder so?“. Eine überaus berechtigte Frage eigentlich, wenn man da mal genauer drüber nachdenkt,  ein wenig verrückt ist es definitiv, was man hier gerade macht. Es gab zumindest noch niemals irgendwann einen Cheftrainer bei der Frankfurter Eintracht, bei dem man sich gefragt hat, wie und wo der wohl seine Kindheit verbracht hat. Das war noch nie von Interesse. Ziemlich verrückte Zeiten. Entweder dreht man als Eintracht-Fan gerade komplett ab, oder die Kovač-Brüder vollbringen nicht nur Wunderdinge mit ihrer Mannschaft, sondern haben auch noch die Fans verzaubert. Nicht auszuschließen, dass es eine Mischung aus allem ist. Es könnte einem fast etwas unheimlich werden.

Und dann läuft man sie noch einmal ab, die Turiner Straße, diesmal aus der anderen Richtung, von unten nach oben. Man denkt darüber nach, was das eigentlich für eine geile Geschichte ist, dass ein Junge aus der Turiner Straße hier im Wedding es tatsächlich mal geschafft hat, später als Fußballer das Trikot von Juventus Turin zu tragen und in dieser Mannschaft gemeinsam mit Leuten wie Gianluigi Buffon, Giorgio Chiellini, Pavel Nedved oder Alessandro Del Piero spielte. Man saugt sie noch mal auf, die Eindrücke der Turiner Straße. Immer wieder fallen einem diese fensterlosen Brandwände ins Auge. Und wie immer in diesem Berlin, wenn irgendwo eine freie Fläche zur Verfügung steht, wird Kunst daraus gemacht. An der Kreuzung Turiner-Amsterdamer-Straße  - Juve trifft auf Ajax schießt es einem kurz durch den Kopf - gibt es den  „Mini Markt“. So ein Laden, der in Berlin auch Späti genannt wird und wo man im Zweifel auch alle  lebenswichtigen Dinge, also in erster Linie Bier, nach Ladenschluss bekommt, wobei Ladenschluss in Berlin ja ohnehin eher seltener vorkommt als in anderen Städten. Auf der Tafel vor dem Mini Markt steht geschrieben „Hier gibt’s warmen Kaffee“. Dieses Angebot ist in diesem Moment  zu verlockend, um den Mini Markt nicht zu betreten.

Auch eine ältere Frau hat offensichtlich ähnliche Pläne.  An der Leine hat sie aber einen kleinen Hund, etwa kaninchengroß, der dieses Vorhaben noch nicht wirklich gut findet. Er möchte nicht, oder vielleicht kann er auch altersbedingt einfach nicht mehr  die wenigen Stufen hinauf steigen. Die ältere Frau wird an dieser Stelle   bewusst nicht als  „Älterer Dame“ bezeichnet, da diese ältere Frau aus dem Wedding vermutlich gereizt reagiert hätte, wenn man sie z.B. mit „gnädige Dame“ angesprochen hätte. Gut vorstellbar, dass sie kurz aus der Haut gefahren wäre und gesagt hätte: „Hören se ma junger Mann, ick bin keene Dame. Ick bin ne sehr patente Frau hier aus dem Wedding. Und det sage ick nich ohne Stolz. Ick hab hier mehr erlebt, als sie sich vielleicht vorstellen können. Ick bin so ziemlich allet, aber ick bin keene Dame! So wat möchte ick nich noch mal hören. Hamwa uns da verstanden?.“ Jedenfalls möchte der Hund nicht die Stufen rauf. Die ältere Frau ist darüber nicht erfreut und ruft mit ihrer rauer Stimme, die an Katharina Thalbach erinnert:  „Mann Gismo, komm jetzt!“  Gismo macht keinerlei anstalten. Die patente, ältere Frau aus dem Wedding flucht etwas vor sich hin und packt ihren Gismo dann und trägt ihn wenig zärtlich die zwei Stufen nach oben. Nachdem sie beide den Laden betreten haben ruft sie sofort mit ihrer Katharina-Thalbach-Stimme durch den Laden: „Eine Bockwurst!“. Der Mann hinter der Laden-Theke könnte dem ersten Eindruck nach „Balkan-Gene“ in sich tragen, ob es wirklich so ist, lässt sich nicht  klären. Er erwidert promt: „Senf? Ketchup?“ Daraufhin die ältere Frau sehr entschlossen: „Senf!“ Antwort des Mannes hinter der Theke: „Eins-achzig“.  Man denkt: Geil! Ein Gespräch, welches sich auf die wesentlichen Informationen beschränkt, die für dieses da ablaufende Geschäft notwendig  sind. Nix mit „Guten Tag“,  „Danke“,  „Bitte“ oder so. Vielleicht war es genau diese Art von Kommunikation die Serdar vorhin meinte, als er sagte „Hier labert dich keiner voll“.  Die ältere Frau kramt inzwischen ihr Geld hervor und bezahlt passend. Kurze Zeit später erhält sie ihre Bestellung und platziert sich an einem der beiden Stehtische um ihre Bockwurst zu genießen. Aus dem Augenwinkel lässt sich beobachten, dass Gismo – mit dem die ältere Frau mit der Katharina-Thalbach-Stimme  unentwegt spricht - auch was von der Bockwurst hat. Man bestellt einen großen Kaffee zum Mitnehmen. Dieser wird sofort abgefüllt und mit einem Deckel versehen. „Eins-vierzig!“  Auf die Frage: „Habt ihr Milch?“ Postwendende Antwort: „Nee, nur Kaffeesahne. Ein oder zweimal?“ Hm ach so, danke, „Einmal reicht!“ Also wird einmal Kaffeesahne in den Pappbecher gegossen.  Eins-vierzig wird ebenfalls passend bezahlt, man sagt aus Gewohnheit „Danke, Tschüss, schönen Tag  noch.“ Antwort: „Tschüss.“  Man tritt wieder auf die Turiner Straße und freut sich, dass die Hände durch den heißen Kaffeebecher etwas gewärmt werden.

Kurze Zeit später ist wieder die vor sich hin tosende Seestraße erreicht. Der Plan eine Abkürzung über den städtischen Urnenfriedhof zu nehmen, scheitert grandios, da zwar alle Tore an der Südseite, also zur Seestraße hin, offen sind, aber alle Tore auf der Nordseite, zur Ungarnstraße abgeschlossen sind. Über die Friedhofstore zu klettern wird als zu pietätlose Option angesehen. Dann also doch einmal außen rum um den weitläufigen Friedhof und zurück in den Schillerpark. Vorbei am BFC Meteor 06 Sportplatz, der inzwischen offensichtlich zu Schulsportzwecken genutzt wird. Jedenfalls tobt  eine große Anzahl von  Kindern im Grundschulalter schreiend und jauchzend über den Kunstrasenplatz. Inzwischen sind noch mehr Hunde als vorhin im Schillerpark unterwegs. Auf der großen Schillerwiese jagen sie den  unterschiedlichsten Wurfgeschossen nach, welche von ihren Herrchen und Frauchen abgefeuert werden. Und da noch etwas Zeit zur Verfügung steht, wird eine freie Parkbank aufgesucht um noch mal über diesen Wedding nachzudenken. Die Sonne über dem Schillerpark hat jahreszeitlich bedingt nicht mehr genügend Kraft, um wirklich Wärme auszustrahlen aber immerhin wirft sie ein freundliches Licht auf den Wedding. Der Kaffee mit einmal Kaffeesahne drin ist keine Offenbarung aber auch nicht so schlimm wie befürchtet. Und angenehm warm ist er auch noch. Es lässt sich also noch ein wenig aushalten hier an der großen Schillerwiese.

Und während  man die Eindrücke der letzten ca. 2,5 Stunden noch mal revuepassieren lässt versucht man diesen Wedding mit passenden Adjektiven zu versehen. Eigentlich ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist, denn der Wedding lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes einfach nicht fassen. Alle folgenden Beschreibungen lassen  sich vermutlich irgendwie auf einmal auf den Wedding anwenden ohne dass es schizophren ist: dreckig, echt, durchtrieben, bunt, kriminell, ungeschminkt, unterschätzt, missachtet, undurchdringlich, geliebt, herzlich, kaputt,  schön, furchtbar, im Aufbruch, verwegen, authentisch, am Ende, spießig, abgefuckt, spannend, bieder, pulsierend, heruntergekommen, im Kommen, grau.

Touristen, die auch zu dieser Jahreszeit zu tausenden nach Berlin kommen, sind hier im Schillerpark nicht anzutreffen. Kein Rollkoffergeklapper, keine geführten Segway-Touren und abends vermutlich auch keine organisierten Pub Crawls durch die Schultheiss-Kneipen. Der Wedding hat auf eine angenehme Art so gar nix von dieser Überdrehtheit, die andere Stadtbezirke der Hauptstadt prägt.  Wie gesagt: Der Wedding scheint ein raues Pflaster zu sein. Und sicher auch kein  Hort der Glückseligkeit. Aber er scheint eine ehrliche Haut zu sein, dieser Wedding. Er macht einem nix vor. Er stellt nix dar, was er in Wirklichkeit nicht ist. Hier wird nicht versucht eine Fassade zu wahren, die es nicht gibt. Auf Höflichkeits-Floskeln wird hier in der Sprache weitgehend verzichtet. Und doch sind die Leute aus dem Wedding ständig auf der Suche nach zwischenmenschlicher Wärme. Es menschelt an allen Ecken, es ist nur nicht immer so offensichtlich, wie bei der Bewohnerin in der Turiner Straße, die so erfreut ist über den Baufortschritt an der Häuserwand, dass sie dem Bauarbeiter die Wange tätschelt und dieser, obwohl er kein Wort versteht, sofort weiß, was sie sagen möchte. Oft ist das "Menschelnde" hier etwas subtiler, aber es ist da. Warum sonst geht die ältere Frau mit ihrem Hund Gismo im „Mini-Markt“ unter den Leuten eine Bockwurst essen und macht sich nicht etwa eine  Discounter-Wurst in den eigenen vier Wänden warm? Warum sonst ließe  sich der Kia-Opa von dem jungen Trucker-Cap-Araber beschwichtigen, obwohl er zuvor  aus Furcht, dass ihm sein „Madamchen“ Stress macht, wenn er sie nicht pünktlich zum Fußpflege-Termin chauffiert, in der Turnier Straße wild darauf los schimpfte. Und nicht zuletzt: Warum kann Serdar einem in dem Döner-Restaurant auf den ersten Blick  ansehen, ob man  aus dem Wedding kommst oder nicht? Und vor allem wie schafft er es auf seine sympathisch, schlitzorige Art, mit wenigen Sätzen, fremden Leuten den Spiegel so vor zu halten,  dass die sich  plötzlich über sich selber wundern. Das alles würde nicht stattfinden, wenn dieser Kiez nicht auch eine überaus menschliche Seite hätte.  Der Wedding mag ein  gerissener Hund sein,  aber er ist nicht  „hintenrum“. Hier wird dir nicht das Blaue vom Himmel versprochen. Die Schultheiss-Kneipe am Schillerpark heißt nicht etwa „Zur schönen Aussicht“ oder gar „Bellevue“ oder so was abgedrehtes; nein, sie heißt schlicht „Bierbar am Park“ und das 0,5er Schultheiss bekommt man für 2,40€. Der Erotik-Shop an der Seestraße heißt schlicht und einfach „Sex-Laden“ und am „Mini-Markt“ in der Turiner Straße steht dran, dass es warmen Kaffee gibt. Wahlweise natürlich mit ein oder zweimal Kaffeesahne natürlich, aber es gibt warmen Kaffee. Hier im Wedding gilt: Drin ist, was drauf steht.

Und doch  bleibt auch festzuhalten: Dieser Wedding rollt niemand den roten Teppich aus. Hier im alten Arbeiterkiez, wo einstmals die Arbeiter von den Werken der AEG oder von Osram lebten, werden – abgesehen von ein paar türkischen Tees aufs Haus – keine großen Geschenke verteilt, hier musst du dir alles erarbeiten.  Der Wedding ist ein harter Hund, vielleicht ist er manchmal sogar eine Drecksau. Um hier bestehen zu können, brauchst du klare Ziele, Disziplin, Willen und Leidenschaft. Und du darfst keine Angst vor Menschen haben. Du musst auf sie zugehen können und mit ihnen reden können, auf ihrer eigenen Wedding-Redensart. Wer hier auf’s Maul kriegt, muss sich kurz schütteln und dann wieder aufstehen, sonst geht er unter. Wer hier rumflennt, kriegt gleich noch eins auf die Schnauze. Hier musst du dich behaupten, hier darfst du dich nicht einschüchtern lassen, hier musst du im Zweifel auch mal dagegen halten.  

Und wenn man sich das alles an diesem sonnigen November-Mittag  hier auf der Schillerwiese so vor Augen führt und dann an unsere Trainer, an Robert aber vor allem auch an unseren Cheftrainer Niko Kovač denkt, dann bildet  man sich ein, eine Ahnung davon zu bekommen, wie viel von diesem Wedding noch in den Kovač-Brüdern  stecken muss. Als Beobachter scheint man die wesentlichen Charakterzüge des Weddings in den  Kovačs wiederzuerkennen. Gepaart mit den zwischenmenschlichen Werten, die ihnen ihre Eltern und möglicherweise  auch Jugendtrainer und andere Bezugspersonen vermittelten, bilden diese Wedding-Skills vermutlich auch heute die Grundlage  ihrer derzeitigen  Wundertrainer-Tätigkeit.

Gleich auf seiner Vorstellungs-Pressekonferenz im März dieses Jahres hat Niko Kovač klargestellt, dass er die Fußballer-Sprache, die Sprache des Weddings beherrsche. Es bedarf zwar einiger Phantasie, wenn man ihn in Interviews oder auf Pressekonferenzen in seiner druckreifen Sprache reden hört, aber zuzutrauen ist es ihm schon, dass er die derbe, teilweise ordentlich testosterongesteuerte Sprache der Fußballkäfige des Weddings verstehen und sprechen kann.  Für jemanden, der in den Käfigen des Weddings bestanden hat, ist es keine große Herausforderung mit den Tigern einer Profi-Fußballmannschaft fertig zu werden, selbst wenn die die Wesenszüge eines fauchenden Alpha-Tigers haben, wie beispielsweise so ein Haris Seferovic. Wer aus dem Wedding kommt, der ist  schlicht und einfach authentisch, wenn er immer und immer wieder auf die Unverzichtbarkeit von Sachen wie Disziplin, Willen, Hingabe, Leidenschaft und Zusammenhalt hinweist. Man nimmt ihm ab, dass er einen Plan hat. Und genau das weist er ja derzeit immer wieder eindrucksvoll nach. Der Mann hat höchste Ziele, er hat höchste Ansprüche an seine Leute er macht klare Versprechungen aber erzählt einem nicht das Blaue vom Himmel. Er erwartet von seinen Leuten volle Hingabe, er erwartet das Maximum aber er erwartet nichts unleistbares. Er erwartet das, was er selber zu leisten im Stande war. Man muss sich schlicht  die Aussagen seiner oben erwähnten Vorstellungs-Pressekonferenz anhören: Alles was er damals  angekündigt hat, wurde  von ihm  eingelöst bzw. umgesetzt. Kein Versprechen ist er schuldig geblieben. Und vielleicht liegt genau in diesem Punkt der Zauber von Niko Kovač, der dazu führt, dass man ihm als Eintracht-Anhänger gerade so zu Füßen liegt, der dazu führt, dass man sich erstmals überhaupt bei einem Eintracht-Trainer fragt wo der überhaupt her kommt und wo seine Wurzeln liegen, oder dass man vielleicht erstmals zu so einer Art Trainer-Groupie wird, wie es Serdar aus dem Dönerrestaurant am Leopoldplatz vermutlich ausdrücken würde.

Dieser Niko Kovač ist kein Dampfplauderer, er ist kein Selbstdarsteller. Was er sagt hat Hand und Fuß. Bei ihm gilt, genau wie beim Wedding: Drin ist, was drauf steht. Er nimmt sich selbst nicht wichtiger als er ist sondern stellt alles in den Dienst der Sache. Und wenn er es mal krachen lässt, dann nie um jemanden herabzuwürdigen sondern weil er es für das Große und Ganze in diesem Moment  als notwendig erachtet. Er hat selber die Hingabe, die Leidenschaft, die er von seinen Leuten fordert, er lebt alles vor was er erwartet und  schießt dabei selber nie über das Ziel hinaus oder wird gar unfair. In seinen Charakterzügen scheint  er das Feuer eines Carlos Zambranos und die Ruhe und Abgeklärtheit eines Alex Meiers zu vereinen. Und was ihm natürlich auch zu Gute kommt ist die Tatsache, dass er mit allen Wassern gewaschen ist. Er kennt die Taschenspielertricks der Branche und kann sich darauf einstellen und ist vorbereitet. Exemplarisch sei noch mal an den Ersatzball erinnert, den er beim Auswärtsspiel in Darmstadt letzte Saison immer parat hielt für den Fall, dass die Lilien Zeitschind-Spielchen veranstalten würden.

Und der Junge aus dem Arbeiterkiez, dem Wedding, weiß aus eigener Erfahrung, was  alles durch harte Arbeit erreichbar ist. Noch so ein Zitat aus der Pressenkonferenz im März: „Es wird nicht einfach, aber was ist schon einfach im Leben?“ Jedem anderen Trainer würde man sofort mit dem Phrasenschwein vor der  Nase wedeln, nicht bei Niko Kovač. Ihm nimmt man das ab, Kovač weiß was dieser Satz bedeutet.  Wenn etwas nicht so klappt, wie geplant, wenn man gar vom Pech verfolgt wird, dann ist jammern keine Option für ihn. Dann muss man halt an einer anderen Stelle eine Schippe drauf legen und noch härter arbeiten. Um eine solche Einstellung zu entwickeln ist der Wedding sicher nicht die schlechteste Schule.

Und dieser harte Arbeiter Niko Kovač aus dem rauen Arbeiterbezirk hat mit seiner Arbeit darüber hinaus  etwas ausgelöst, was voller Anmut ist und für viele Eintracht-Anhänger eine völlig  neue Erfahrung. In tausenden Herzen von Eintracht-Fans keimen nämlich derzeit ganz zarte Pflänzchen. Und diese zarten Pflänzchen bestehen  aus Träumen. Es sind keine abenteuerlichen Träume, keine unrealistischen Träume. Aber es sind auch keine Alpträume, nein es sind schöne Träume. Und dieses Gefühl ist für Eintracht-Fans daher so neu, da es ihnen über Jahre  verboten war zu träumen. Immer und immer wieder wurde ihnen gebetsmühlenartig erklärt, dass die Bundesligatabelle keinen Raum für Träume bereit hält, da sie  mindestens so zementiert sei, wie die Bausubstanz im Berliner Wedding.

Die Tatsache, dass  der Kaffee mit  Kaffeesahne aus dem „Mini-Markt“ inzwischen alle ist und auch der Uhrzeiger ein wenig drängt, reißt einen aus diesen möglicherweise etwas   pseudo-stichhaltigen Überlegungen, in denen versucht wird den Bezug zwischen der Herkunft der Kovač-Brüder und ihrer heutigen Arbeitsweise zu ergründen. Ob an all den Überlegungen was dran ist, könnten im Endeffekt nur die Kovač-Brüder selber beurteilen. Aber die sollten anstatt solche Belanglosigkeiten  zu beurteilen, lieber ihre Zeit darauf verwenden,   was sie am besten können. Also zum Beispiel solche Sachen wie  lahmende Außenverteidiger zu Raketen umfunktionieren, ins Stottern geratene japanische Mittelfeldmotoren  zu Weltklasse- Liberos  verwandeln, junge spanische Rohdiamanten schleifen, buchholzer Zopfträger bei Laune zu halten  oder seelenlose  Trümmertruppen  zu einer leidenschaftlichen, feurigen und aufregenden Fußballmannschaft zu formen.  Und wenn man als Eintracht-Anhänger in dieser Vorweihnachtszeit einen einzigen Wunsch auf einen Zettel schreiben dürfte, dann wäre es sicher der, dass die Kovač-Brüder, die   aus dem Wedding stammen, das was sie am besten können, noch möglichst lange im Dienste von Eintracht Frankfurt machen.
So wird also der Schillerpark an diesem November-Mittag fast ein wenig wehmütig verlassen. Man sucht das Auto auf und gibt die Zieladresse für den nächsten Termin ein. Und so rollt man los. Auf der Suche nach einem geeigneten Sender fürs Autoradio bleibt man bei  „Fritz“ vom RBB hängen, denn dort spielen sie einen Song des Berliner Rappers „Kontra K“ der behauptet  "Erfolg ist kein Glück."

Jetzt ist nicht überliefert, ob Niko  Kovač   etwas für   Sprechgesang mit deutschen Texten übrig hat. Wovon man aber ausgehen kann ist die Tatsache, dass er mit den Botschaften des Textes von „Kontra K“ was anfangen könnte. Darin heißt es zum Beispiel:

Talent ist harte Arbeit, Perfektion dauert Jahre
Wenn sie schreien ich hab es leicht, dann habt ihr leider keine Ahnung
Wir kommen tief aus dem Dunklen entgegen der Erwartung
Hass und Neid, Blut und Schweiß gibt dem Leben nur mehr Erfahrung
Ausdauer ist der Schlüssel für den Ruhm
Es gibt viel was mir fehlt, aber davon hab ich genug


Erfolg ist kein Glück
Sondern nur das Ergebnis von Blut, Schweiß und Tränen
Das Leben zahlt alles mal zurück


Und mit dieser Musik im Ohr geht es aus den Seitenstraßen des Weddings, rauf auf die Müllerstraße und dieser dann in südöstlicher Richtung folgend. Vorbei an der U-Bahnstation Seestraße, vorbei am Leopoldplatz. Noch mal ganz kurz ein bisschen Wedding-Gefühl einatmen. Und dann weiter, am S-Bahnhof Wedding vorbei, wo die Müllerstraße dann irgendwo in die Chausseestraße übergeht und wo dann spätestens ab dem  Oranienburger Tor   ein ganz  anderes Berlin anfängt, eines, was mit dem Wedding so gar nichts mehr gemein  hat.

Dieses glitzernde, saubere Berlin. Dieses völlig überdrehte Berlin.  Dieses Berlin mit tollen schillernden Fassaden aus Glas und Stahlbeton, wo einem die Läden das Blaue vom Himmel versprechen. Dort wo Lafayette, H&M, Zara, Lacoste, Boss, Gicci und Marc O´Polo, Picard, Linus,  Napapijri und wie sie alle heißen nur drauf lauern, einem das Geld aus der Tasche zu ziehen. Mit unbändigen Versprechungen zum „Black Friday Sale“ wollen sie einen in ihre Tempel locken. Hinter glitzernden Fassaden, wo sie „Die Besten Angeboten zum Cyber Monday“  für einen bereithalten.  Dieses Berlin der Kaffee Einsteins  und von Starbucks.  Dort wo mit Höflichkeitsfloskeln wie „Einen Wunderschönen guten Tag“, „Kann ich sonst noch was für Sie tun?“, „Vielen Dank“, „Sehr gerne und einen schönen Tag noch“ nur so um sich geworfen wird und wo man dann aber doch  bestenfalls  mitleidig  belächelt wird, wenn man einen großen Kaffee mit zweimal Kaffeesahne bestellt. Wo die entgeisterte Antwort auf so eine Bestellung lautet: „Großen Kaffee haben wir nicht, wir haben nur tall, grande oder venti. Und Kaffesahne haben wir auch nicht, aber ich mache Ihnen sehr gerne einen Java Chip Frappuccino  oder einen Toffee Nut Latte. Oder probieren sie doch mal unseren ausgezeichneten Chai Latte.“  Und Bockwurst mit Senf bekommt man bei Starbucks vermutlich auch nicht  so ohne weiteres. Und schon gar nicht werden einen die Starbucks-Verkäuferinnen mit einem grinsenden „Du kommst nicht von hier, oder?“ begrüßen. Denn sie haben sicher in ihrem Express-Coaching gelernt, dass man so nicht mit Kunden spricht. Schade eigentlich für die Starbucks-Kunden.

Und während man hier in der adventlich herausgeputzten Friedrichsstraße so über Lafayette, H&M, Zara, und Starbucks nachdenkt, möchte man eigentlich am liebsten auf der Stelle umdrehen und auf direktestem Wege zurück in den Wedding fahren. Man möchte sich eine Bockwurst ohne „Bitte“, „Danke“, „Sehr gerne“ dafür aber mit reichlich Senf bestellen. Man möchte literweise Kaffee mit möglichst viel Kaffeesahne in sich hinein kippen und man möchte sich danach mit der älteren Frau mit ihrem Gismo, mit dem Kia-Creed-Opa, dem Trucker-Cap-Araber und mit Serdar auf ein paar große, frisch gezapfte Schultheiss für 2,60€ in der Bierbar am Park treffen.

Leider aber sieht der Terminkalender nun diese  Friedrichstraße in Berlin-Mitte vor. Wehmütig seufzt man vor sich hin und denkt:  „Ach ja, der Wedding.“  Für einen kurzen Moment möchte man sogar sagen „Mein Wedding“. Im gleichen Augenblick beißt man sich aber auf die Zunge und verbietet sich so etwas zu sagen. Denn das wäre tatsächlich eine unverzeihliche Anmaßung  gegenüber den Leuten, die wirklich aus dem Wedding kommen. Gegenüber der älteren Frau mit ihrem Gismo, gegenüber dem Kia-Creed-Opa und seinem Madamchen, gegenüber dem Trucker-Cap-Araber,  gegenüber  Serdar, für den die Straßen im Wedding aus Gold sind und nicht zuletzt gegenüber Niko und Robert Kovač , den Brüdern aus der Turiner Straße. Alle die dürften mit Fug und Recht sagen: „Mein Wedding“. Aber nicht irgendein  daher gelaufener  Trainer-Groupie.  Nein der darf das nicht, der darf sich höchstens  wohlwollend an einen kurzen, eindrucksvollen  Ausflug an einem Novembertag in den Wedding erinnern.
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Wow! Vielen Dank für diesen sensationellen Bericht! Du alter Groupie

Ich muss auch zugeben, dass mich der Umfang im ersten Moment etwas abgeschreckt hat - aber ich bereue keine Sekunde des Lesens! Als wäre man dabei gewesen. Einfach Wahnsinn!

Und ich kann dich beruhigen: Natürlich ist das für Außenstehende wie Serdar nicht so leicht zu verstehen, was Niko und Robert Kovac da gerade in Frankfurt leisten, was sie dadurch in uns auslösen und welche Wertschätzung sie hier dadurch zurecht erhalten. Als Eintrachtfan kann man aber nachvollziehen, warum es dir bei deinem Berlinaufenthalt wichtig war, mal im Wedding zu schauen, wo die Kovacs so herkommen. Du bist also kein bloßer Kovac-"Fanboy" oder gar "Groupie", sondern halt durch und durch Eintrachtler

In diesem Sinne umso mehr und umso größeren Dank dafür, dass du uns durch deine außerordentlichen Mühen mit der Recherche und dem Verfassen dieses einzigartigen Textes an deinen Eindrücken teilhaben lässt! Eintracht!
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WuerzburgerAdler schrieb:  


Wo kommt eigentlich Benny Köhler her?

Der kommt wie sein Kumpel Sido aus dem Märkischen Viertel.

Und danke allerseits für die freundliche Rückmeldung! Freut mich, dass sich doch einige durch den langen Text kämpfen.
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Brodowin schrieb:

Und danke allerseits für die freundliche Rückmeldung! Freut mich, dass sich doch einige durch den langen Text kämpfen.

Was heisst hier kämpfen ? Ich bin beim ersten lesen regelrecht durchgeflogen und habe ihn jetzt noch mal langsam und genüsslich gelesen. Wird auch sicher nicht das letzte mal gewesen sein.
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Großartig, Brodowin! Einfach nur großartig! Danke schön!


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