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Fanhistorie: Wie der Polizeichor ins Stadion kam

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Angeregt durch eine Bemerkung von junkdeluxe ("In den 90ern, als der Erfolg da war, habe ich z.B. gar nichts von der Existenz des guten Liedgutes vom Polizeichor Frankfurt mitbekommen") im nachfolgend verlinkten Thread: http://www.eintracht.de/forum/list.php?thread=10914146, habe ich mir gedacht, dass es doch eine willkommene Gelegenheit für eine kleine Sommerpausen-Serie im Forum sein könnte.

Eintracht Frankfurt ist deutlich mehr, als Du-Ri Cha, Ioannis Amanatidis oder Heribert Bruchhagen. Eintracht Frankfurt lebt, das hat nicht nur Berlin vor zwei Wochen bewiesen, gerade oder insbesondere durch die Fanszene. Vieles rund um die Eintracht, was heute als selbstverständlich erscheint, hat oft ihre ursprüngliche Wurzel innerhalb der Eintrachtfans. Doch über die Jahre hinweg wachsen viele Generationen nach, die sich dessen überhaupt nicht bewusst sind bzw. sein können, wie ein Ritual, eine Fan-Bewegung oder der ein oder andere Schlachtruf entstanden ist. Mittlerweile gibt es ja auch schon einige junge Fans, die nicht mal mehr das alte Waldstadion kennen gelernt haben.

Vielleicht findet sich ja der ein oder andere Schreiber in den nächsten Wochen, der uns über die Sommerpause mit Geschichten und Wissenswertes rund um die Eintracht und Ihre Fans beglückt. Ich mache heute mal den Anfang.


Die älteren Fans unter uns, für die die Eintracht seit jeher erstklassig und auf ewig unabsteigbar war, können sich natürlich noch daran erinnern, wie geschockt wir alle 1996 nach dem ersten Abstieg in der bis dahin 97 jährigen Vereinsgeschichte waren. Ein Schock, den ich übrigens bis heute noch nicht so richtig verdaut habe.

Damals hießen auf einmal die Gegner nicht mehr SSC Neapel, Juventus Turin, Bayern München oder Hamburger SV, sondern Lübeck, Meppen, Gütersloh, Zwickau oder Oldenburg. Das galt es erst mal zu verkraften. Gegner, die man zuvor allenfalls in der ersten Pokalrunde wahrnahm, gehörten nun zum Standard-Programm. Eine Liga, die Sonntags in der Glotze von der Bedeutung irgendwo zwischen DTM, Heike Drechsler Portrait und Springreiten eingeordnet war, sollte nun die neue Heimat sein. Eine Heimat, die bis dahin mit dem FSV Frankfurt oder den ungeliebten Nachbarn von der anderen Mainseite besetzt war, auch wenn diese Vereine zu jenem Zeitpunkt längst in der Oberliga Hessen angesiedelt waren. Hinzu kam, dass an Spieltagen ein Menze oder Pejovic mit dem Ball ähnlich unbeholfen über den Platz stolperten, wie sich in etwa ein Maulwurf beim Tontauben-Wettschießen anstellen dürfte. Und das geschah alles in einem Eintracht-Trikot, in dem wenige Jahre zuvor noch ein Grabowski, Hölzenbein, Detari, Bein, Yeboah oder Okocha die hohe Frankfurter Fußballkunst zelebrierten, die uns doch so wohltuend von dem einfach gestrickten Kratz- und Beißfußball im Stile von Lautern oder Oxxenbach unterschied. Vorbei.

Für einen normalen Eintrachtfan, mit einem Mindestanspruch für Ästhetik, war das damals natürlich kaum noch erträglich. Die gesamte Fanszene hatte daher nur noch zwei Wahlmöglichkeiten. Entweder man verfiel in einen kollektiven dauerhaften Dämmerzustand, oder versuchte irgendwas anderes - was neues auszuprobieren. Es wurde was neues ausprobiert, indem Aktivitäten geboren wurden, die über das Spielfeld und den jeweiligen Spieltag hinaus gingen. Im Stadion stieg die Stimmung. Man war eh quasi unter sich. Der Erfolgs- und Gelegenheitszuschauer blieb der zweiten Liga fern. Es war die Geburtsstunde von Pyros (unvergessen die Heimspiele gegen Essen oder Mainz, als die komplette Gegentribüne eingenebelt wurde), Ultra-Gedanken und Martin Stein auf der Zwischenmauer der Gegentribüne, der versuchte dem chaotischen Haufen, der sich da vor ihm versammelte, den Takt vorzugeben.

Außerhalb des Stadions bekam das Bewusstsein für Tradition und deren Pflege einen immer wichtigeren Stellenwert. Die Zeiten, in denen man sich, ohne zu murren, orange-, grün-weiße oder gelb-blaue Trikots gefallen ließ, schienen vorbei zu sein. Selbst der rot-weiße Traditionsadler aus den 60er Jahren feierte in der Szene, nicht zuletzt durch Rainer Kaufmanns Fanhouse, eine Renaissance. Um so mehr die Eintracht in der Tabelle der 2. Liga abrutschte, um so mehr erinnerte man sich den alten, den so viel besseren Zeiten.

Der Star war nun nicht mehr der Spieler. Diesen gab es eh kaum noch in der zweiten Liga. Zum Star mutierte der Verein und dessen Historie. Eine Historie, die als mentale Basis für eine hoffnungsvolle Zukunft herhalten musste. Die damalige Mannschaft  wie auch die wirtschaftliche Situation konnte das nicht leisten. Aber die Vergangenheit bewies uns, dass wir zu höherem berufen sind. Die gesamte Saison zusammenreduziert auf die erste Runde des Pokalwettbewerbs. Denn wir fühlten uns als Erstligist. Wir legten nur eine Pause ein. Und da diese schier endlos erschien, wurde auf den Rängen eine (für Deutschland) ganz neue Form des "Anfeuerns" entwickelt und abseits des Stadions der Staub von den Remington-Trikots und Grabowski-Autogrammkarte aus Papis Dachboden-Kiste gepustet.

Es passte in diese Zeit der gleichzeitig stattfindenden Neu- und Altorientierung innerhalb der Fanszene, als Jens G. (dem dieser Beitrag hier gewidmet ist - im Forum mit dem Nick StefanNossek leider nur ein stiller Mitleser *wink einmal* smile: eines Tages mit einer Eintracht Langspielplatte aus den siebziger Jahren unter dem Arm zu mir kam. Keine Ahnung mehr was der genaue Grund dafür war, aber ich legte sie gleich bei mir auf und überspielte sie per Soundkarte auf meinen Rechner und brannte sie auf CD.

Ehrensache, dass diese CD wenig später auf den damals noch eher selten stattfindenden, aber daher zu den absoluten Höhepunkten gehörenden Geiselgangster/Analsextour-Auswärtsfahrten gespielt und besungen werden musste. Ob Liesel Christ, Walter v. Mende, die Endspiel-Reportage 1959 oder eben der Polizeichor. Das alles ließ Niederlagen in Uerdingen, Gütersloh oder Jena etwas leichter verkraften. Eintracht-Oldies als Droge gegen den tristen sportlichen Alltag.

Irgendwann, mittlerweile löste der junge André Rothe den Zwischendurch-Stadionsprecher Joachim Böttcher ab, überkam mir die Idee, dass diese CD, zumindest aber ausgewählte Stücke, wie z.B. "Im Wald, da spielt die Eintracht", "Schönes Franfurt am Main" oder "Im Herzen von Europa" im Waldstadion gespielt werden sollte. Ich drückte die CD André Rothe in die Hand, mit der Aufforderung, dort reinzuhören und im Stadion abzuspielen. Ein Heimspiel später wirkte der gute André nicht wirklich begeistert von meinen Musikwünschen. Er konnte nicht verstehen, wie mir so "alte Kamellen" gefallen könnten. Ich sagte ihm einfach, dass das Eintracht-Geschichte und auf jeden Fall kultiger ist, als der ganze Peter Maffay und sonstige Blödsinn, der seit Jahren als sogenannte Eintracht-Hymne verkauft wird. Er solle die CD einfach mal im Stadion spielen. André spielte Im Herzen von Europa, ohne dass er dabei sonderlich glücklich wirkte. Auch im Stadion nahm das kaum jemand zur Kenntnis. Die, die es zur Kenntnis nahmen, waren entweder verzückt, weil sie es aus dem Geiselgangster-Bus kannten, oder ähnlich entsetzt wie unser Stadionsprecher.

André Rothe spielte den Polizeichor trotzdem öfters ab, ohne dass dieser auch nur annähernd den Stellenwert einnahm, den er heute hat. Als neue Hymne entpuppte sich damals Tore Netzmachers Eintrachtsong "Wenn die Sonne scheint". Der Polizeichor spielte, wenn er denn überhaupt gespielt wurde, eine Randnotiz.

Ich weiß es jetzt nicht mehr genau wie es weiterging, aber ich glaube, nachdem der HR zwischenzeitlich kein Medienpartner mehr war, übernahm Radio FFH das Rahmenprogramm im Stadion. Tore Netzmacher, eine Produktion von HR-Mitarbeitern, spielte da keine sonderlich große Rolle mehr. Außerdem erkannten die FFH Leute das Kultpotential von "Im Herzen von Europa"(im Internet zog das Stück schließlich auf fast allen Fanpages seine Kreise, auf Auswärtsspielen ertönte es immer öfters im Eintracht-Block) und blendeten sogar den Liedtext zum Mitsingen auf die Videotafel.

Wie dem auch sei, hätte mir damals einer ins Ohr geflüstert, als ich mit der CD vor André Rothe wild herumfuchtelte, dass knappe neun Jahre später bei einem Pokalendspiel in Berlin rund 30.000 Frankfurter durchdrehen, während der Polizeichor gespielt wird, wäre ich wahrscheinlich gemeinsam mit Zampe nackt durchs Waldstadion geflitzt.

So, und hier ist das Original-Stück von Jens Platte (mit allen dazugehörigen Knacksern), wie es im Geiselgängster-Bus lief und erstmals (!) 1997 im Frankfurter Waldstadion abgespielt wurde:

http://eintrachtfans.de/download/HERZEN.MP3

Lieber Jens, ich hoffe Du liest diesen Beitrag und denkst am Samstag gegen Gladbach daran, wenn Im Herzen gespielt wird, dass Du mit Deiner Platte alles angestoßen hast. Eigentlich gehört uns dafür ein Denkmal gebaut. Aber zumindest ich gebe mich auch mit der UEFA-Cup-Teilnahme zufrieden.




Eintracht, Eintracht über alles



Seite A
Eintracht wird Meister (Bundesliga Fanchor)
Nachtgebet für die Frankfurter Eintracht (Fred Metzler)
Schönes Frankfurt am Main (Polizeichor Frankfurt)
Endspiel-Reportage 1959 (Herbert Zimmermann)
Wie kann nur e Mensch net für die Eintracht sei (Liesel Christ/Benny Maro und die Frankfurter Schrammeln)
Stadion-Nostalgisches (Walter v. Mende)
Im Wald, da spielt die Eintracht (Benny Maro und die Frankfurter Schrammeln)

Seite B
Bitte noch ein Tor (Bundesliga Fanchor)
Fan-Club "Schwarzer Geier" (Walter v. Mende)
Bundesliga-Polka (Bundesliga-Blasmusiker)
Liebe Eintracht-Fans (Liesel Christ)
Im Herzen von Europa (Polizeichor Frankfurt)
(1977)

(Ein großes Dazke an Frank: http://www.eintracht-archiv.de)

Andy Klünder für die Initiatve "Rettet das Forum"
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Toll!
[small]Da hab ich schon seit deiner Ankündigung drauf gewartet und es hat sich gelohnt zu warten[/small]
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Na, das nenn' ich doch 'ne Story! Dafür haste demnächst ein Kaltgetränk gut bei mir!

Ich konnte mir besagte LP seinerzeit immerhin auf Cassette aufnehmen, die ich natürlich immer noch habe. Arme Leut' halt...
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Kann man vielleicht die komplette Platte online stellen oder ist da ein Copyright drauf?
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Boah, Rigobert, was eine geile Idee für einen neue Threadserie, was für eine klasse Geschichte, und wie  schön erzählt!

Bitte mehr davon!

gruß,
pallazio
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Danke für diesen Beitrag. Zwischen all den Choreo- und Pöbel-Threads geht das runter wie Öl
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Danke Rigo


Rigobert_G schrieb:
Andy Klünder für die Initiatve "Rettet das Forum"


Das ist ein Anfang. Danke.
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Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke! Danke!

*aufdiekniefall->zufriedenseufz->nachmehrlechz!*
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So macht Forum spaß!

Danke Rigo!
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rigo, wenn hier eines tages mal einer ein gescheites fanbuch über die eintracht schreibt, dann du. dann kommt wahrscheinlich auch raus, dass du seinerzeit den grabi an den riederwald geholt hast

geile geschichte.
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Rigobert du überraschst mich immer wieder mit deinen Veröffentlichungen. Sehr schöner Text, wunderschön stillistsich geschrieben, liest sich sehr eingängig und vor allen Dingen werden da Dinge erzählt die ich überhaupt garnicht net wußte du!

Vielen dank. Bitte mehr davone! Das war sehr schön zu lesen!!!!
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Ich sehe es grade vor mir, die Anzeigetafel im Waldstadion mit dem Songtext aus Sicht des G-Blocks. Das waren meine Anfangszeiten bei der Eintracht und es waren meine Schönsten, auch wenns nur 2. Liga war

Vielen vielen Dank, die guten Forumszeiten kommen wieder.
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Sehr, sehr geil!
Ich liebe solche geschichtlichen Rückblicke.

P.S.
Trug zum Erfolg von "im Herzen von Europa" nicht auch eine ziemlich lange Heim-Siegesserie bei, nachdem das Lied am Anfang eher skeptisch aufgenommen wurde? Oder trügt mich da meine Erinnerung?


Übrigens gehörte ich auch zu denenigen, die entsetzt waren, als sie das Lied das erste Mal im Stadion hörten (ja ich bereue)
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helo72 schrieb:
Übrigens gehörte ich auch zu denenigen, die entsetzt waren, als sie das Lied das erste Mal im Stadion hörten (ja ich bereue)




Als ich das erste mal "Im Herzen von Europa" gehört habe, war ich ebenso entsetzt und habe mich gewundert wie alle anderen Fans so dermaßen auf so einen Kram abgehen konnten...

...und heute singe ich lautstark mit, Zeile für Zeile, und obwohl es nach und nach zur Gewohnheit wird, läuft mir immer ncoh ein eiskalter Schauer über den Rücken, wenn 10.000 Mann das Lied zu singen und Schals / Doppelhalter in die Luft halten...

Not just ZoLo, but also the forum is back!

Danke Rigobert...echt 'ne Hammer-Story!
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Vielen vielen Dank für diese wunderbare Story,
das war sehr schön zu lesen .
Bitte bitte mehr davon.



gruss Maikoff
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im Herzen von Europa liegt mein Frankfurt am Main...

Mann ich musste vorhin beim Europapokal-Finale schon daran denken, ob wir das Lied irgendwann wieder mal in einem europäischen Finale singen dürfen.

Aber mit solchen Fans wie uns wird das hoffentlich nicht zu lange dauern...

Danke für die geilen Erinnerungen!

SGE Forever
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Tja,

zu Zeiten von Fußball 2000 war ich engagierter Zuschauer. Einer von vielen Zuschauern.

Jetzt bin ich Hardcore.

Vielleicht hat es ganau das gebraucht, um hier wirklich eine Szene zu entwickeln: Dieses gemeinsam durch die Scheiße gehen und zu entdecken, dass Eintracht Frankfurt viel mehr ist, als nur ein Verein, bei dem man in seiner Stadt ordentlichen Fußball gucken kann.

Die meisten von den Kiddies, die jetzt hier groß rumposten und vor ein, zwei Jahren vorm Fernseher noch "Fan" von irgendeinem Gewinner-Verein waren, wissen das nicht. Können sie wahrscheinlich auch nicht wissen.

Es ist unsere Aufgabe, das denen beizubringen. Dazu gehören selbstverständlich auch ein paar Ohrfeigen. Aber wenn nur einige wenige von denen begreifen, dass es bei Eintracht Frankfurt nicht um einen neuen Vertrag für Lexa und geile Choreos geht, sondern um was viel größeres und wichtigeres, dann ist es gut.
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Wow! Du kannst wahrlich Geschichten erzählen! Eine Freude, diesen Text zu lesen!
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Tja, wenn ich mich recht erinnere - und Du mich ja auch noch drauf gebracht hast - fand ich "Im Herzen von Europa" früher ziemlich schrecklich.

Vielleicht passte es nicht in die 2. Liga - vielleicht tat es mir einfach nur weh.

Aber der Trotz, bzw. die Erinnerung, waren ja auch nicht das schlechteste Motiv das Lied zu spielen.

Danke für den Bericht.
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"Eine Liga, die Sonntags in der Glotze von der Bedeutung irgendwo zwischen DTM, Heike Drechsler Portrait und Springreiten eingeordnet war, sollte nun die neue Heimat sein. Eine Heimat, die bis dahin mit dem FSV Frankfurt oder den ungeliebten Nachbarn von der anderen Mainseite besetzt war, auch wenn diese Vereine zu jenem Zeitpunkt längst in der Oberliga Hessen angesiedelt waren. Hinzu kam, dass an Spieltagen ein Menze oder Pejovic mit dem Ball ähnlich unbeholfen über den Platz stolperten, wie sich in etwa ein Maulwurf beim Tontauben-Wettschießen anstellen dürfte. Und das geschah alles in einem Eintracht-Trikot, in dem wenige Jahre zuvor noch ein Grabowski, Hölzenbein, Detari, Bein, Yeboah oder Okocha die hohe Frankfurter Fußballkunst zelebrierten, die uns doch so wohltuend von dem einfach gestrickten Kratz- und Beißfußball im Stile von Lautern oder Oxxenbach unterschied. Vorbei."



Genau so habe ich damals gedacht.

Schöne Erinnerung, jetz wo es endlich wieder nach dem alten Gefühl "riecht".


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